418 II. 6. Die Sozialpolitik des Deutschen Reiches (1880—89).
das Recht, zuwiderhandelnde Betriebsunternehmer in eine höhere Gefahrenklasse zu
versetzen oder Zuschläge bis zum doppelten Betrag ihrer Beiträge von deuselben ein-
zufordern, die zuwiderhandelnden Arbeiter aber mit Geldbußen bis zu sechs Mark zur
belegen. Sämtliche Strafgelder sielen den Krankenkassen zu. Von der Verwaltung
der Geldangelegenheiten der Genossenschaft blieben natürlich die Arbeiter, die ja selbst
keinen Beitrag dazu leisteten, ausgeschlossen.
Die Unfallrente darf nur bei vorsätzlichem Unfall vorenthalten werden und be-
trägt bei gänzlicher Erwerbsunfähigkeit zwei Drittel des Arbeitsverdienstes, bei teil-
weiser Erwerbsunfähigkeit oder bei Entschädigung der Hinterlassenen eines täödlich
Verunglückten bis 60 Prozent seines Arbeitslohnes. Dazu kommt, wie bereits er-
wähnt, der Erfatz der Heilungskosten, beziehungsweise des Beerdigungsaufwandes.
Die Feststellung des Schadenersatzes liegt, nach vorausgehender polizeilicher Unfalls-
untersuchung, den Organen der Berussgenossenschaft ob. Gegen deren Ausspruch ist
die Berufung an das Schiedsgericht und bei schwereren Unsällen an das Reichs= oder
Landesversicherungsamt gegeben. Die Satzungen der einzelnen Berufsgenossenschaften
können auch die Versicherung von Unternehmern und anderen nicht versicheumgs-
pflichtigen Personen zulassen.
In dieser Gesamtverfassung war das Unfallversicherungsgesetz ein höchst wert-
voller sozialpolitischer Fortschritt, der selbst von den radikalen Parteien des Neichs-
tags, Deutschfreisinn und Volkspartei, nicht ganz geleugnet werden konnte. Die
Gegnerschaft des Deutschfreisinns (die absolut verneinende Sozialdemokratie können
wir einstweilen übergehen) richtete sich hauptsächlich gegen zwei Neugestaltungen des
Gesetzes: den Ausschluß aller Privatversicherungen und das Umlageverfahren,
und in beiden Beziehungen wurden die Deutschfreisinnigen auch von angesehenen Red-
nern der Nationalliberalen unterstützt. Namentlich traten Ochelhäuser und Buhl für die
freie Konkurrenz der Privatversicherungen ein. Aber Fürst Bismarck, unterstützt durch
den Staatssekretär von Bötticher, lehnte jede Beteiligung der Privatversichermgen an
dem Unfallversicherungswerke enischieden ab, weil diese Gesellschasten es auf große
Dividenden abgesehen hätten und bei Massenumfällen nicht einmal die Gewähr der
Erfüllung ihrer Verpflichtungen böten, oder sich der Verpflichtung der Versicherung
höchster Gesahrenklassen durch einen Auflösungsbeschluß entziehen könnten. Diese Be-
fürchtungen wurden von der den Neichstag beherrschenden konfervativ-klerikalen Mehr-
heit, mit welcher die Regierung bei allen Kompromißvorschlägen allein verhandelte,
vollständig geteilt. So wurde denn felbst der im Reichstagsausschuß in erster Lefung
angenommene ganz unverfängliche Antrag, wenigstens die Nückversicherung bei Privat-
anstalten zu gestatten, in zweiter Lesung abgelehnt.
Weniger wichtig war die zweite Hauptstreitfrage, zu welcher der Eutwurf Anlaß
gab, die über das Umlageversahren. Dieses beruhte darauf, daß uur der je-
weilige jährlich ermittelte wirkliche Bedarf aufgebracht werde. Die Gegner schlugen
das Deckungsverfahren vor, nach welchem die ganze Sumee, welche zur endgültigen
Deckung der jährlich eintretenden und nach versicherungstechnischen Grundsätzen zu
ermittelnden Verpflichtungen voraussichtlich erforderlich ward, sofort im vorans