Das Jefuitengesetz. 75
Grunde des freien Vereinsrechls und der Selbständigkeit jeder Religionsgesellschaft in der Ver-
waltung ihrer Angelegenheiten. Dabei erhebe sich jedoch sofort die Vorfrage, ob eine Körperschaft
und Organisalion, wie die des Jesuilenordens, in das Gebiet des freien Vereinsrechts salle und
lediglich eine eigene Angelegenheit der Kirche bilde. Ein Orden mit der Verfassung dieser Ge-
sellschaft sei sedensalls kein Privatverein, keine Vergesellschaftung von „Preuszen“ (im Sinne
und nach dem Wortlaut der preußischen Verfassung) und „Zu erlaubten Zwecken“, sondern es
ieien eidlich verpflichtete Mitglieder einer in strenger Unterordnung fest geschlossenen Körperschaft,
welche sich über das ganze Gebiet der katholischen Kirche erstrecke und ihre Oberen im Auslande
habe, deren Anweisung zu befolgen sie sich gleichsalls eidlich verpflichteten. Dem Staat schle
dem allem gegenüber der Anhalt zu einer sich selbst schützenden Thäligkeit. Die systematische
Einwirkung der Ordensverbindung auf die einzelnen Glieder, die von ihnen geleitete Thätigkeit
der Vereine entziehe sich der zusammenhängenden Keuntnis und Konlrolle des Staates. Diese
Art der Thätigkeit habe in der Geschichte der Orden stets gewattet und lasse sich doch nie durch
inridische Beweise seststellen. Jeder nicht zu dieser Parteiorganisation Gehöhrige stehe einer un-
sichtbaren Macht gegenüber, welche überall thätig und doch nirgends in einem verantwortlichen
Organ zu sinden sei. Eine solche Organisalion enthalle eine Gefährdung des kirchlichen Friedens.
Das in dieser Lage Notwendige sei die Herstellung der Autorilät des Staates und der Staats-
gesetze nach einheitlichen Grundsätzen; nichk etwa durch bloße Polizeiverbole, sondern nur durch
zusammenhängende Maßregeln der Gesetzgebung und der Regierungen innerhalb ihrer Zustän-
digleit sei solchen Zuständen abzuhelfen.
Auf Grund dieser Erwägungen beantragte die Reichstagskommission beim
Bundesrate: Die verbündeten Regierungen möchten später ein Ordensgesetz, wenn
möglich aber noch in dieser Session dem Reichstag einen Gesetzentwurf vorlegen, durch
welchen die Niederlassung von Mitgliedern der Gesellschaft Jesu und der ihr ver-
wandten Kongregationen ohne ausdrückliche Zulassung der betreffenden Landesgesetz-
gebung unter Strafe gestellt wird.
Die aus dem Reichstag hervorgegangenen Anträge (Amendements) zum Kom-
missionsantrag stellten sich grundsätzlich sämtlich auf denselben Boden wie die Kom-
mission, mit Ausnahme des Zentrums natürlich, welches „Ubergang zur Tagesord-
nung“ verlangte; auch mit Ausnahme der „Demokraten“ Sonnemann und Graven-
horst, welche diese Gelegenheit für passend hielten, um die gemeinschädliche Phrase
„einer vollständigen Trennung von Staat und Kirche“ im deutschen Reichstag ertönen
zu lassen. Eine feste Mehrheit von reichlich zwei Dritteln Stimmen gewann der Antrag
Marquardsen-von Blankenburg-Lucius-Marquard-Barth, für welchen die drei libe-
ralen Fraktionen, Nationalliberale, Fortschrittspartei und Freie Neichspartei (unter
Abbröckelung von nur acht Fortschrittlern), desgleichen die Konservativen und die
Deutsche Reichspartei (letztere nur mit Abschwenkung zweier ultramontaner schlesischer
Grasen) einmütig stimmten. Dieser Antrag, mwelcher sich in betress der künstigen
Ordensgesetzgebung im allgemeinen dem Kommissionsautrag auschloß, verlangte, daß
„die staatsgesährliche Thätigkeit der Orden, namentlich der Gesellschaft Jesu, unter
Strase gestellt“ werde.
Uber diese Anträge verhandelte der Reichstag unmittelbar nach der Botschaster-
debatte, in den Tagen vom 15. und 16. Mai 1872.