Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

76 Zweiter Teil: Organisation des Bundes. 
V. Der Eintritt der Wirksamkeit der Reichsgesetze. 
Sofern nicht in dem publizierten Gesetze ein anderer Anfangs- 
termin seiner verbindlichen Kraft bestimmt ist, beginnt dieselbe mit dem 
14. Tage nach dem Ablauf desjenigen Tages, an welchem das 
betreffende Stück des Reichsgesetzblattes in Berlin ausgegeben worden 
ist (Reichs-Verfassung Art. 2). (So ist z. B. die Reichs-Verfassung mit 
dem 4. Mai 1871 in Wirksamkeit getreten). Die Frist ist eine 
Vakationsfrist. 
In vielen Gesetzen ist dem Kaiser die Ermächtigung eingeräumt, 
den Beginn der Wirksamkeit der betreffenden Gesetze zu bestimmen. 
In den Konsular-Jurisdiktions-Bezirken beginnt die Wirksamkeit 
der Reichsgesetze in vier Monaten vom Tag der Ausgabe an gerechnet 
(Konsular-Gesetz vom 10. Juli 1879 § 47, S. 205). 
Auf bestehende, d. h. auf schon vor Inkrafttretung des Gesetzes 
begründet gewesene konkrete Rechte und Rechtsverhältnisse und deren 
späteren Folgen findet das Gesetz in der Regel keine Anwendung, 
sondern nur auf künftige, nach dem Eintritt seiner Wirksamkeit sich 
ereignende Fälle. Das Gesetz wird somit in der Regel nicht zurück- 
wirken. Das Gesetz hat jedoch die Macht, die zeitlichen Grenzen seiner 
Herrschaft frei zu bestimmen. Rückwirkend ist ein Reichsgesetz nur, 
wenn in demselben ausdrücklich ausgesprochen ist, daß es rückwirkt. 
Im Zweifel ist im konkreten Falle jedenfalls anzunehmen, daß das 
Gesetz nicht rückwirkend ist. 
Die Daten des Gesetzes, welche am Eingang und am Schluß 
stehen, und nach welchen man die Gesetze gewöhnlich zitiert, bezeichnen 
blos Ort und Tag der Ausfertigung und Gegenzeichnung und sind 
für den Anfangspunkt der Gültigkeit und Wirksamkeit des Gesetzes 
ohne Bedeutung. 
VI. Die Wirkung der Reichsgesetze. 
Das Reich übt das Recht der Gesetzgebung mit der Wirkung aus, 
daß die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen (Reichs-Verf. Art. 2.) 
Diese Priorität bezieht sich sowohl auf die verschiedenen Arten 
von Gesetzen, welche als solche bezeichnet sind, als auch auf jede 
andere Rechtsnorm, ohne Rücksicht auf deren Entstehungs= und 
Erkenntnisquelle. 
Mit dem Tage der Wirksamkeit des Gesetzes treten alle erlassenen 
Landes-Rechtsnormen ohne Weiteres außer Geltung, seien nun solche 
übereinstimmend mit dem Reichsgesetz oder widersprechend. 
Als unbestritten wurde von dem königlich preußischen Bevoll- 
mächtigten zugegeben, daß selbst bezüglich der der Bundeslegislative 
zugewiesenen Gegenstände die in dem einzelnen Staate geltenden 
Gesetze und Verordnungen insolange in Kraft bleiben und auf dem 
bisherigen Wege der Einzelgesetzgebung abgeändert werden können,
	        
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