146 Zweiter Teil: Organisation des Bundes.
die Gesetze des Reiches beobachten und alle mir vermöge meines
Amtes obliegenden Pflichten nach meinem besten Wissen und Ge-
wissen genau erfüllen will, so wahr mir Gott helfe u. s. w.“
(Verordnung vom 29. Juni 1871, S. 303, R.-V. Art. 50 und Verordnung vom
6. Dezember 1900 S. 1035.)
Die nach Maßgabe der Verfassung und der Gesetze des Deutschen
Reiches vom Kaiser titulierten bezw. ernannten Behörden und Beamten
führen die Bezeichnung „Kaiserlich“. (Kaiserl. Erlaß vom 3. August 1871, S. 318.)
Die Rechtsverhältnisse der Reichsbeamten sind in dem Gesetz von 31. März
1873, S. 61 genau geregelt und in Kapitel 3 näher behandelt.
2. Kapitel.
Die einzelnen Reichsbehörden.
I. Der Reichskanzler.
1. Die staatsrechtliche Stellung des Reichskanzlers.
Der Art. 17 der Reichs-Verfassung bestimmt, daß die Anordnungen
und Verfügungen des Kaisers zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des
Reichskanzlers bedürfen und daß dieser mit der Gegenzeichnung die poli-
tische, zivilrechtliche und strafrechtliche Verantwortlichkeit übernimmt.
(Vergl. hiezu Sten. Ber. 1867 I, S. 328, 329, 341, 361, 365, 369; 1867 II, S. 138,
297, 298—300 und Sitzung vom 1. Dezember 1874, vom 22. November 1875 S. 252,
326 und vom 5. März 1878. [Bismarckl.)
„Nach unserer Verfassung bin ich verantwortlich für diejenigen kaiserlichen
Entschließungen, die der Gegenzeichnung des Reichskanzlers bedürfen, dagegen nicht
für persönliche Kundgebungen, auch wenn solche programmatischer Natur sind. Inn-
seits dieser geschäftlichen Grenze beginnt das Gebiet der Imponderabilien, der Tra-
dition, des Taktes, der Gewissenhaftigkeit und der moralischen Verantwortlichkeit.
Ein Reichskanzler, der solcher moralischen Verantwortlichkeit sich bewußt ist, wird
nicht im Amte bleiben, wenn er Dinge nicht verhindern kann, die das Reich wirklich
und dauernd schädigen. Aber auch der Kaiser darf wie jeder Staatsbürger seine
Meinung frei äußern. Ich werde es niemals ablehnen, für die Einwirkung und
Rückwirkung, die solche persönliche Kundgebungen haben können, nach dem großen
Ganzen der Politik für mich verantwortlich zu halten.“
ülow in der Sitzung vom 10. Januar 1908.)
(V
Hieraus folgt, daß die Politik des Kaisers nicht verwirklicht werden
kann ohne Gegenzeichnung seitens des Reichskanzlers und daß diesem die
oberste Leitung bezw. Aufsicht aller Reichsangelegenheiten, welche in der
Regierungsgewalt des Kaisers liegen, zusteht (er somit Chef der obersten
Reichsbehörden ist). Er ist sowohl dem Kaiser als dem Bundesrat und
dem Reichstag verantwortlich. (Vergl. übrigens das Kapitel Über Elsaß-Lothringen,
Abschnitt VIII.) Aus diesem Grunde steht ihm einerseits als Reichs-
kanzler (oder Reichsminister) gemäß Reichs-Verfassung Art. 15 der
Vorsitz im Bundesrate und die Leitung der Geschäfte des Bundes-
rates zu, damit ist aber nicht gemeint, daß der Reichskanzler Mit-
glied (Bevollmächtigter) des Bundesrats zu sein braucht oder als
solcher es mit dem Recht des Art. 9 des Reichsverfassung wäre,
obwohl dies zweckmäßig und bisher stets der Fall gewesen ist (Sten.
Ber. 1877, S. 127 und vom 24. Januar 1882) und andererseits hat der