Einleitung.
Die Ära der Massen.
Die großen Erschütterungen, welche, wie der Fall des
Römischen Reiches und die Begründung der Araber-Herrschaft,
den Kulturveränderungen vorangehen, scheinen auf den ersten
Anblick besonders durch bedeutsame politische Veränderungen
bestimmt zu sein: durch Völkerinvasionen oder durch den
Sturz von Dynastien. Eine genauere Untersuchung dieser Er-
eignisse zeigt aber, daß sich zumeist hinter deren scheinbaren
Ursachen als wirkliche Ursache eine tiefgehende Modifika-
tion in den Ideen der Völker findet. Nicht jene, die uns durch
ihre Größe und Heitigkeit verwundern, sind die wahren histo-
rischen Erschütterungen. Die einzigen Veränderungen von Be-
deutung — jene, aus welchen die Erneuerung der Kulturen ent-
springt — vollziehen sich auf dem Gebiete der Ideen, der Ge-
danken und Überzeugungen. Die bemerkenswerten Ereignisse
der Geschichte sind die sichtbaren Wirkungen der unsichtbaren
Veränderungen des menschlichen Denkens. Wenn diese großen
Ereignisse so selten stattfinden, so hat das seinen Grund darin,
daß es nichts Stabileres in einer Rasse gibt, als das Erbgut
ihrer Gedanken.
Das gegenwärtige Zeitalter bedeutet einen jener kriti-
schen Momente, in denen das menschliche Denken im Begriffe
ist, sich umzubilden.
Dieser Umwandlung liegen zwei Hauptfaktoren zugrunde:
Erstens die Zerstörung der religiösen, politischen und sozialen
Überzeugungen, aus denen alle Elemente unserer Zivilisation
entspringen. Zweitens die Schaffung völlig neuer Existenz-
und Denkbedingungen infolge der neuen Entdeckungen der
Wissenschaft und der Industrie.
Da die Ideen der Vergangenheit, obwohl halb zerstört,
noch sehr mächtig, und die Ideen, die sie ersetzen sollen,
erst in der Bildung begriffen sind, so stellt die Gegenwart eine
Periode des Überganges und der Anarchie dar.
Le Bon, Psychologie der Massen. 1