ALTE RUSSISCHE SCHULE 145
gute Eigenschaften aber nur Voreingenommenheit und Ungerechtigkeit
bestreiten können und denen sich gerade der Deutsche nicht verschließen
sollte, wäre es nach dem furchtbarsten aller Kriege auch nur nach dem
römischen Grundsatz: Disce ab hoste.
Der damalige russische Botschafter in Berlin, Graf Nikolaj Dimitri-
jewitsch von der Osten-Sacken, verkörperte in sich die Qualitäten, welche
die alte russische Diplomatie auszeichneten. Er sprach und schrieb aus-
gezeichnet Französisch und konnte so viel Deutsch, um zu verstehen, was
in seiner Gegenwart auf Deutsch geäußert wurde, und auf diese Weise
manches Interessante aufzuschnappen, zumal er grundsätzlich so tat, als
ob ibm die deutsche Sprache verschlossen wäre. Er verband die besten
Formen, ein würdiges Auftreten und eine unbedingte Korrektheit mit nicht
wenig Schlauheit. Seine Lieblingsanekdote war die von der berühmten
Ansprache, die der Fürst von Talleyrand, das Vorbild aller Diplomaten der
„guten alten Zeit“, an seinen Nachfolger richtete, als er von Napoleon I.
seines Amtes enthoben worden war. „Mon cher Duc“, sprach der Fürst der
Diplomaten zu dem neuen Minister, dem Duc de Bassano, „je vous presente
le personnel du ministere, tous gens de merite et surtout, gräce a moi, nulle-
ment zeles. Il y a peut-ötre parmi eux quelques jeunes attach&s qui, en
cachetant une lettre, ex&cutent cette operation delicate avec un peu trop
de pr&cipitation. Mais j’espere que vous les corrigerez de ce leger defaut.“
Graf Osten-Sacken war längere Zeit Gesandter in München gewesen
während der Regierung des Königs Ludwig II. Dieser unglückliche Monarch
hatte unter anderen Eigenheiten auch die, daß ihm Empfänge in hohem
Grade zuwider waren, und namentlich das Empfangen von Diplomaten.
So hatte er auch längere Zeit den russischen Gesandten in München nicht
empfangen. Durch einen Zufall hatte Alexander III. dies vernommen. Der
stämmige Zar hielt ohnehin von den kleinen Höfen nicht viel. Zum Ent-
setzen der Königin Olga von Griechenland, seiner Kusine, der Tochter des
Großfürsten Konstantin Nikolajewitsch, hatte er einmal vor ihr mit einem
Faustschlag auf den Tisch geäußert: „‚Tous ces petits rois de droite et de
gauche ne me disent absolument rien.“ Da sein Gesandter in München den
König von Bayern nie zu sehen bekam, so beschloß er, diesen völlig un-
nötigen Posten eingehen zu lassen. Darob große Aufregung in München,
wo man hohes Gewicht auf ein möglichst vollzähliges und glanzvolles Korps
ausländischer Diplomaten legte, an dessen Spitze der Nuntius mit Bot-
schafterrang prangte.
Auch der spanische Botschafter in Berlin gehörte, wenn auch nur im
Nebenamte, zum Münchener Diplomatischen Korps und wurde, wenn er
einmal jährlich seinen Zeremonialbesuch in der bayrischen Metropole ab-
stattete, mit Würde und Wichtigkeit empfangen. Es ist sehr charakteristisch
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Osten-Sacken