XUOL KAPITEL
Parlamentarische Beredsamkeit in Deutschland: Bennigsen, Stresemann, Miquel,
Bassermann, Eugen Richter, Hertling, Bebel, Heydebrand, Naumann, Paasche - Mit
Wilhelm II. in Kiel - Seine Rede von der gepanzerten Faust (15. XI. 1897) - Prinz
Heinrich in London » Sein Bericht über seine Fahrt nach Ostasien - Wilhelm II. und
Saliebury - Besuch Wilhelms II. in Friedrichsruh beim Fürsten Bismarck » Pacht-
vertrag über Kiautschou (5. I. 1898)
m meisten hatte mich gefreut, daß ich bei meiner ersten Rede keinerlei
Befangenheit und Nervosität verspürt hatte. Ich habe seitdem in drei
Parlamenten und auch außerhalb des Parlaments manche Rede gehalten.
Ich bilde mir deshalb nicht ein, daß ich wie Cicero ein Buch ‚‚de claris
oratoribus‘“ schreiben könnte, meine aber doch, daß ich mir auf diesem
Gebiet eine gewisse Erfahrung erworben habe. Warum wird in Frankreich
und in Italien, in England und in Amerika, eigentlich überall, besser ge-
sprochen als bei uns? Das war schon während meiner Amtszeit so, und in
der Republik ist, wie mir von Angehörigen aller Parteien gesagt wurde und
wie die Parlamentsberichte bestätigen, das rednerische Niveau in den
deutschen Parlamenten noch erheblich gesunken. Das mag zunächst mit
dem geringen Formsinn der Deutschen zusammenhängen. Während auf
französischen Schulen auf die „Rhetorik“ besonderer Wert gelegt wird und
fast alle französischen großen Parlamentarier bereits als Schüler sich gerade
in diesem wesentlichen Unterrichtsgegenstand ausgezeichnet haben,
während die englischen Minister und Abgeordneten meist schon in Eton
oder Harrow, in Oxford oder Cambridge als tüchtige Debatter bekannt
waren, wird in Deutschland die Redekunst so gut wie gar nicht gepflegt.
Bismarck hat gesagt, gute Redner wären im allgemeinen schlechte Politiker.
Dadurch fühlen sich rechtsstehende Politiker entschuldigt, wenn sie auf die
Form ihrer Reden wenig Gewicht legen. Die Fraktionen der Linken,
namentlich die Sozialisten, lassen sich die rednerische Ausbildung ihrer
Parteigänger eifriger angelegen sein. Sie erfolgt aber nicht selten in banau-
sischer Weise und beschränkt sich nur zu oft auf das Einprägen abge-
griffener Schlagworte und immer wiederkehrender Phrasen. Der Lateiner
sagt: „Poeta nascitur, orator fit.“ Ich glaube im Gegenteil, daß jeder Mensch
ein geborener Redner ist, denn jeder hat eine Zunge. Freilich hilft auch
Parlamcents-
redner