Wilhelm II.
an seine
Mutter über
Bismarck
234 DER WEIT GRÖSSERE GENIUS
mit den Worten begann: „Heute ist der Vorhang über einen langen Akt
unserer Geschichte gefallen. Jetzt beginnt ein neuer Akt, bei dem Mir die
erste Rolle zufällt.‘“ Er sprach dann dem Fürsten Hohenlohe sein Ver-
trauen aus und ermahnte das Staatsministerium, seinen Präsidenten zu
unterstützen, damit er seiner Aufgabe gerecht werden könne. Etwa acht
Tage nach dem Ableben des Fürsten Bismarck erhielt Wilhelm II. von
seinem intimsten englischen Freunde, dem Earl of Lonsdale, einen Bricf,
den er nicht mir, aber verschiedenen Herren seiner Umgebung zu lesen gab
und in dem es ungefähr hieß, die Deutschen schienen recht aufgeregt durch
den Tod des Fürsten Bismarck. Ihn, Lonsdale, beruhige der Gedanke, daß,
wenn Bismarck die deutsche Einigung nicht fertigbekommen hätte, a far
greater genius, nämlich Wilhelm II., dieses Werk vollbracht haben würde.
Der Kaiser hatte zu dem Brief bemerkt: „Und an einem so treuen Freund
wollen manche Leute mich irremachen.““
Kaum zwei Monate nach dem Ableben des Fürsten Bismarck schrieb
Kaiser Wilhelm seiner Mutter, der Kaiserin Friedrich, über sein Verhältnis
zu dem großen Kanzler seines Großvaters einen Brief, der für die Psyche
Wilhelms II. bezeichnender ist als irgendein anderes mir bekanntes Doku-
ment. Der Kaiser ließ mir dieses Schreiben durch Philipp Eulenburg mit
der Bemerkung zugehen, dafür zu sorgen, daß sich unsere Diplomaten im
Sinne seiner Darlegungen aussprächen, wo sie nur immer Gelegenheit
fänden. Eulenburg gab mir dabei zu verstehen, daß, wenn dieser Brief
„wie durch ein Versehen“ in die Presse käme, dies nicht schaden würde.
Wilhelm II. hat während seiner ganzen Regierung das Bedürfnis empfun-
den, die Entlassung des Fürsten Bismarck zu rechtfertigen. Er hat mich
wiederholt aufgefordert, das Schreiben zu veröffentlichen, das er nach dem
Sturz von Bismarck an Kaiser Franz Josef gerichtet hatte. Er versprach
sich davon eine große Wirkung. Es gelang mir, dem Kaiser die Absicht aus-
zureden, und als jener Brief an Kaiser Franz Josef nach der Revolution im
November 1918 von Wien aus publiziert wurde, schadete das kaiserliche
Schreiben nicht, wie Wilhelm II. angenommen hatte, dem Andenken des
Fürsten Bismarck, wohl aber dem Kaiser selbst, schon weil es zu viel Über-
treibungen, Phantastereien und darüber hinaus einige handgreifliche Un-
wahrheiten enthielt. Ich habe mich oft gefragt, ob der Kaiser in solchen
Fällen sich der Unwahrbaftigkeit seiner Darstellung selbst bewußt war.
Philipp Eulenburg, der geistig sehr fein war, meinte einmal in Erinnerung
an ein bekanntes und schönes Lied von Uhland, wo von dem singenden
Vogel die Rede ist, der in den Zweigen wohnt, von Wilhelm II., er phan-
tasjere, um nicht zu sagen, er löge, wie der Vogel singt, der in den Zweigen
wohnt. Donna Laura Minghetti drückte das in der ihr eigenen drastischen
Weise mit den Worten aus: „L’imperatore dice molte bugie, ma non fa per