Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

BEIM SULTAN 249 
räsonnieren hören, daß in seinem elterlichen Hause die Frau den Mann be- 
herrsche und das Heft in der Hand habe. Von ihm sollte das nicht gesagt 
werden, und er hielt, wie er mir einmal sagte, seinen „Hühnerhof“ in 
Respekt und Ordnung. Während die Damen schwiegen, bewies Oberhof- 
prediger Dryander, daß bei einem treuen Diener am Wort sich Mut und 
Festigkeit schr wohl mit der Milde vereinigen lassen, die dem würdigen 
Seelsorger des Kaiserlichen Hauses alle Herzen gewann. Dryander vertrat 
gegenüber der von Wilhelm II. vorgelesenen Kritik der uns von den Evan- 
gelisten überlieferten Heilsgeschichte den Standpunkt des gläubigen 
Christen mit so viel Wärme und solcher Entschiedenheit, daß der Kaiser 
ihm bewegt die Hand reichte und der Kaiserin wie ihren Damen Tränen 
der Rührung in die Augen traten. Ernst Dryander; der, wie schon sein 
gräzisierter Name zeigt, einer alten Gelehrtenfamilie entstammte — ein 
Onkel von ihm regierte, während ich Schüler des Pädagogiums in Halle 
war, als trefflicher Ordinarius unsere Prima —, hat Kaiser Wilhelm II., 
der als Student in Bonn zu den Füßen seiner Kanzel gesessen hatte, im 
Gegensatz zu Adolf Harnack auch dann die Treue gehalten, als Wilhelm II. 
den Kaiserthron mit dem Exil vertauschte. Es hat sich in der Vergangen- 
heit gegen die Hofprediger dies und jenes und manches vielleicht nicht mit 
Unrecht sagen lassen. Oberhofprediger Dryander war ein wahrer Bischof 
in dem Sinne, in dem der größte der Apostel seinen rechtschaffenen Sohn 
Timotheus mahnt, ein guter Streiter Christi zu sein eingedenk dessen, daß 
Gott uns nicht gab den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und 
der Zucht. 
Am 18.Oktober1898 landeten wirinKonstantinopel. Ichwar während 
unseres dortigen Aufenthaltes durch politische Arbeit so sehr in Anspruch 
genommen — nicht nur durch Rücksprachen mit den türkischen Ministern, 
sondern auch durch den brieflichen und Depeschenverkehr mit Berlin —, 
daß ich nicht einmal dazu gekommen bin, die Hagia Sophia zu besuchen. 
Eine solche Einseitigkeit ist vielleicht ein Fehler. Um so größer war die 
Genugtuung, mit der ich mich nach meinem Rücktritt der Bereicherung 
meines Wissens und der Erweiterung meines geistigen Horizonts widmen 
konnte, die ich während meiner zwölfjährigen Tätigkeit an der Zentralstelle 
im Interesse konzentrierter und deshalb notgedrungen einseitiger Er- 
füllung meiner amtlichen Pflichten hatte vernachlässigen müssen. Sultan 
Abdul Hamid machte mir während der längeren Audienz, die er mir ge- 
währte, keinen erhebenden Eindruck. Obwohl er der Welt als der „Schlächter 
der Armenier“ galt und es wohl auch war, sah er mehr armenisch als 
türkisch aus, krumm, lauernd, scheu und gebückt. Munir-Pascha, der 
Sekretär für fremde Korrespondenz, der als Dolmetscher fungierte, mußte 
bei jedem Wort, das er sprach, mit der Hand den Boden berühren. Das hieß 
Empfang 
durch 
Abdul Hamid
	        
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