Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

252 EIN STERBENDES REICH 
als österreichisch-ungarischer Minister des Äußern Graf Gyula Andrässy 
auf einen Bericht des damaligen österreichisch-ungarischen Militär- 
attaches in Konstantinopel, des Grafen Alfred Uexküll, erteilte. Dieser 
unterbreitete, nachdem er sich in Konstantinopel etwas umgesehen hatte, 
dem Grafen Andrässy einen langen Bericht, in dem er auf Grund seiner 
Eindrücke die Unmöglichkeit nachwies, daß das türkische Reich noch länger 
als schr kurze Zeit am Leben bleiben könne. Graf Andrässy entgegnete ihm, 
er habe mit großem Interesse diesen Bericht gelesen, der viel, sehr viel 
Zutreflendes enthalte. Er erinnere sich aber, in den ungarischen Archiven 
den Bericht eines ungarischen Vertreters bei der Hohen Pforte aus dem 
17. Jahrhundert gelesen zu haben, in dem mit der gleichen Bestimmtheit 
der Untergang des Osmanischen Reichs für die nächste Zeit prophezeit 
wurde. Er denke also, die Türkei werde auch die Voraussage des Grafen 
Uexküll überleben. Die Antwort des Grafen Andrässy war geistreich, aber 
doch nicht ganz zutreffend. Die Türkei gehörte zu denjenigen staatlichen 
Gebilden, die Lord Salisbury mit britischer Härte die „dying nations“ 
genannt hatte, d. h. zu denjenigen Staaten, die Gebietsverluste geduldig 
hinnehmen und dadurch zeigen, daß sie solche Verluste eigentlich verdient 
haben und daß von einem Wiedererwerb nicht mehr die Rede sein kann. 
Die Türkei hatte im Laufe der Jahrhunderte Ungarn, Siebenbürgen, 
Griechenland, Serbien, Bulgarien, die Nordküste von Afrika verloren, und 
kein Mensch, der Türke am wenigsten, glaubte, daß diese weiten Gebiete 
wieder unter türkische Herrschaft zurückkehren würden. So wenig wie 
irgend jemand je im Ernst angenommen hat, daß Österreich die Lombardei 
und Venetien oder Belgien oder Vorder-Österreich wiedergewinnen würde, 
die es einst besaß. Deshalb riet ich im Herbst 1898 dem Kaiser, sich weder 
für noch gegen die türkische Herrschaft über Kreta zu engagieren. Er solle 
nichts gegen die Türken unternehmen, aber sich auch nicht zu stark für sie 
einsetzen, denn Kreta würde mit der Zeit doch griechisch werden. Der 
Kaiser, der damals die Griechen verachtete, für die er später nach der Ver- 
söhnung mit seiner Schwester Sophie und Konstantin von Griechenland, 
und namentlich nach dem Ankauf des Achilleion auf Korfu, schwärmen 
sollte, ging ungern auf solche Vorstellungen ein und konnte es namentlich 
nicht unterlassen, dem Zaren immer wieder im Interesse der Türken zuzu- 
setzen. An den Panislamismus und die grüne Fahne habe ich nie recht ge- 
glaubt und mich darin nicht getäuscht, daß ihre Entfaltung weder den Eng- 
ländern noch den Franzosen noch den Russen noch den Italienern ernstliche 
Verlegenheiten bereiten würde. 
Ich verließ die Türkei mit der Überzeugung, daß wir hier ein weites 
Gebiet für wirtschaftliche Tätigkeit und für den Ernstfall auch einen 
tapferen Freund besäßen, über dessen innere Schwäche wir uns aber keine
	        
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