AGRAR- UND INDUSTRIELAND 93
mit der in Deutschland regiert würde, ein glänzendes Zeugnis. Die von mir
eingebrachte Novelle zum Berggesetz, die es der Regierung ermöglichte,
übermäßige Arbeitszeiten herabzusetzen, die das Strafsystem reformierte,
eine Reihe sanitärer Vorschriften brachte und vor allem Arbeiterausschüsse
einsetzte, um die Wünsche der Arbeiterschaft den Besitzern vorzutragen,
stieß im Preußischen Landtag auf starken Widerstand bei den Konserva-
tiven und fast noch mehr bei dem rechten Flügel der Nationalliberalen,
wurde aber schließlich durch eine Mehrheit, die aus Zentrum, Freikonserva-
tiven und einem Teil der Nationalliberalen bestand, in der von mir ge-
wünschten Form angenommen. Ich war immer der Ansicht, daß Arbeit-
geber und Arbeitnehmer berufen sind, an unserer wirtschaftlichen Ent-
wicklung gemeinsam mitzuwirken. Ich hoffte, daß der große Gedanke der
Arbeitsgemeinschaft unserer werktätigen Bevölkerung sich im Frieden,
allmählich und ohne gewaltsamen Umsturz durchsetzen werde. Möge nach
so viel Blut und Tränen die Notwendigkeit der Zusammenfassung aller
schaffenden Kräfte unseres Wirtschaftslebens mehr und mehr unser Volk
durchdringen und dazu beitragen, die Wunden zu heilen, die Krieg und
Revolution uns geschlagen haben.
Am 1. Februar brachte ich im Reichstag die neuen Handelsverträge ein
mit einer mehr als zweistündigen Rede*. Die Parteien, die mir im vorigen
Reichstag geholfen hatten, den Zolltarif durchzusetzen, blieben mir auch
jetzt treu. Als ich feststellte, daß es meinen Mitarbeitern und mir gelungen
wäre, bei erheblich verstärktem Schutz für die Landwirtschaft doch auch
die Interessen unserer Industrie und unseres Handels wahrzunehmen, ent-
sprechend meiner Überzeugung, daß Deutschland Agrar- und Industrie-
land wäre, unterbrachen mich Protestrufe der Linken. Ich habe nie etwas
davon gehört, daß, als sich unsere Industrie und unser Handel unter dem
Schutz dieser von meinen Mitarbeitern und mir abgeschlossenen Handels-
verträge während des nächsten Jahrzehnts glänzend entwickelten, die
Zwischenrufer von damals ihren Irrtum eingestanden hätten. Wohl aber
behielt ich recht mit der von mir am Schluß meiner langen Rede ausge-
sprochenen Überzeugung, daß von den neuen Handelsverträgen kein Er-
werbsstand im Deutschen Reich ganz befriedigt sein werde, daß sie aber
das Wohl unserer gesamten nationalen Arbeit fördern würden und daß, wer
ihnen seine Zustimmung erteile, der inneren und äußeren Wohlfahrt des
Deutschen Reichs diene.
Diese Auffassung teilten die deutschen Bundesfürsten, von denen mir
der Großherzog Friedrich von Baden telegraphierte, sein nationales Emp-
finden dränge ihn, mir seine Dankbarkeit auszusprechen „für diesen großen
* Fürst Bülows Reden, Große Ausgabe II, S. 157—176; Kleine Ausgabe III, S. 212—238.
Annahme der
neuen
Handels-
veriräge