104 ELSASS UND MAROKKO
und mir seit jeher Mei hiedenheiten. Nach der Ansicht Seiner
Majestät lag es im deutschen Interesse, daß sich Frankreich in Marokko
engagiere und festlege. Dadurch würden die Blicke der Franzosen von den
Vogesen abgelenkt. Sie würden so allmählich Elsaß-Lothringen vergessen
und verschmerzen. Auch würde Frankreich durch die Eroberung und Be-
hauptung von Marokko militärisch geschwächt werden. Zu meinem Er-
staunen wurde der Kaiser in dieser Auffassung von militärischer Seite
bestärkt. Überhaupt kann ich bei aller Bewunderung für Wissen, Arbeits-
kraft, Pflichttreue und Vaterlandsliebe der ausgezeichneten Männer, die in
dem nun leider verwaisten, historischen roten Backsteinbau am Königs-
platz im Geiste unseres großen Feldmarschalls Moltke wirkten, doch nicht
verschweigen, daß unser Generalstab neuen Erscheinungen gegenüber nicht
rechtzeitig Verständnis und richtige Einschätzung zeigte. So wie unsere
Generalstäbler später die Improvisationsfähigkeit der Engländer und
Amerikaner auf militärischem Gebiet, deren Artillerie und Tanks, überhaupt
die Bedeutung des technischen, maschinellen Elements für die moderne
Kriegführung, die Energie der vom Geiste der Konventszeit getragenen
Kriegführung des Advokaten Poincare und des Arztes Clemenceau unter-
schätzten, so schätzten sie schon zehn Jahre früher die militärische Trag-
weite der nordafrikanischen Eroberungen Frankreichs nicht richtig ein.
Im Gegensatz hierzu habe ich schon 1913 in meiner Studie über deutsche
Politik darauf hingewiesen”, daß die volle und unbeschränkte politische,
wirtschaftliche und militärische Herrschaft über Marokko für die Zukunft
eine erhebliche Stärkung Frankreichs bedeuten könne, ein Eindruck, den
ich schon bei meiner Reise durch Tunis und Algier im Frühjahr 1884 gewon-
nen hatte. Ich war mir auch nie im Zweifel darüber, daß Frankreich einen
vollgültigen Ersatz für den Verlust Elsaß-Lothringens selbst in dem gewal-
tigsten Kolonialbesitz nicht erblicken würde, daß Tunis und Fez, Kairuan
und Rabat die Blicke der Franzosen vom Straßburger Münster und der
Metzer Esplanade nicht ablenken würden. Ich hatte diese Auffassung seit
jeher gegenüber dem Kaiser vertreten, der aber bei seiner Ansicht blieb.
Er hatte schon am 20. August 1904 zu dem Unterstaatssekretär von Mühl-
berg gesagt, es sei ganz gut, wenn Frankreich Marokko pazifiziere und dort
Ordnung schafle, da ihm diese Kulturarbeit große Opfer an Blut und Geld
kosten werde. Habe Frankreich seine Aufgabe erfüllt, sei Marokko erst der
Zivilisation erschlossen, so werde der deutsche Handel dort schon seinen
Platz finden, eine Ansicht, welcher der Unterstaatssekretär unter Hinweis
auf die prohibitionistische französische Kolonialpolitik vergeblich wider-
sprochen hatte.
* Fürst von Bülow, Deutsche Politik, S. 84.