116 DIE WUNDE VON 1870
einem Ausgleich mit Frankreich hinneige. Da er, Luzzatti, in gleicher Weise
mit Barrere und Monts durch Freundschaft verbunden wäre, hätten sich
die Augen der französischen Staatsmänner auf die genannten beiden Diplo-
maten gelenkt, um durch sie zur Behebung der gegenwärtigen Spannung zu
gelangen. Frankreichs Lage sei jetzt prekär. Die Nation wünsche,
einer unhaltbaren und nach französischer Ansicht unheilschwangeren Krisis
ein Ende zu bereiten, die Regierung wisse aber nicht, wie sie aus der
marokkanischen Sackgasse herauskommen solle. Man frage sich in Paris,
ob Seiner Majestät dem Kaiser und König irgendeine Allerhöchstihm von
Frankreich zu erweisende eklatante persönliche Genugtuung genehm
sein würde. Der französische Botschafter sei von Delcasse ermächtigt, mit
seinem Freunde Monts die Sachlage zu erörtern. Herr Luzzatti hatte noch
geäußert, daß England die französischen Hoffnungen bitter enttäuscht habe.
Man hätte in London erklärt, daß das Marokkoabkommen England ver-
pflichte, diplomatisch Frankreichs Ansprüche zu unterstützen. Darüber
hinaus könne England nicht gehen. Auch an der Newa wolle man wegen
Marokkos die freundschaftlichen Beziehungen zu Deutschland nicht aufs
Spiel setzen. Luzzatti gab zu, daß Delcasse den Plan verfolgt hätte,
Deutschland völlig zu isolieren. Er habe aber mit falschen Prämissen ge-
rechnet. Die japanischen Siege hätten, wie Delcasse selbst an Barrere
schrieb, seine Pläne umgeworfen, nachdem er noch im vergangenen Früh-
jahr die ihm von Deutschland dargebotene Hand zurückgewiesen habe.
Herr Delcass@ habe damals in Rom die ihm von Italien übermittelte An-
regung einer Begegnung des französischen Präsidenten mit Seiner Majestät
dem Kaiser mit der ausdrücklichen Begründung abgelehnt, im französischen
Volk brenne die Wunde von 1870 noch zu tief, es würde seine Staatsmänner
nicht verstehen und sie, vielleicht sogar den Präsidenten, fortjagen, wenn
es zu einer Begegnung zwischen dem Deutschen Kaiser und dem franzö-
sischen Staatsoberhaupt komme. Jetzt herrsche in den weitesten Schichten
des französischen Volks negativ „‚paura“, positiv der Wille, die Regierung
zu einem Ausgleich mit uns zu zwingen. Leichten Herzens würden sich die
glübenden Patrioten Delcasse und Barrere gewiß nicht zu einem immerhin
demütigenden Schritt entschlossen haben, denn sie bäten jetzt durch
Luzzatti bei Monts direkt um gutes Wetter. Auf die Frage des deutschen
Botschafters, ob die französische Regierung einen ehrlichen Frieden mit uns
wolle, der ohne endgültigen Verzicht auf Elsaß-Lothringen nicht möglich
sei — denn der Gott der Schlachten, 1870 nicht von uns angerufen, habe für
Deutschland entschieden, die Reichslande wären mit dem Blute von hundert-
tausend braven deutschen Männern erkauft, so lange ein Deutsches Reich
existiere, gäben wir sie nicht heraus, darüber dürfe kein Zweifel und kein
Sous-Entendu bestehen —, hatte Luzzatti keine klare Antwort gegeben.