Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

DIE 150 000 ENGLÄNDER 119 
sollte oder das Versprechen des Präsidenten Loubet, im nächsten Jahr auf 
eine Begegnung mit dem Deutschen Kaiser einzugehen. 
In meinen Unterredungen mit dem französischen Botschafter Bihourd, 
einem sehr höflichen, wohlerzogenen, eher schüchternen Diplomaten, den 
Delcasse wohl gerade deshalb nach Berlin geschickt hatte, um unter diesem 
Samthandschuh seine härtere Hand zu verbergen, vermied ich alle Drohun- 
gen, jede schroffe oder auch nur unhöfliche Wendung. In freundlichem 
Tone sagte ich dem Botschafter, daß, wenn er überzeugt sei, daß England 
den Franzosen zu Hilfe eilen werde, ich die Richtigkeit dieser Auffassung 
nicht a priori in Zweifel ziehen wolle. Ich gäbe auch vollkommen zu, daß 
England unserem Handel schwere Schläge versetzen, daß es unsere im Bau 
befindliche Flotte zerstören könne. Aber nach Lage der Dinge würde bei 
einem Krieg, den ich ebenso und geradeso wie Bihourd zu vermeiden 
wünsche, das arme Frankreich am meisten leiden. „C’est vous, je le con- 
state avec tristesse, qui payerez les pots cass&s, non par notre mechancete, 
mais par la force des choses.‘* 
Je mehr sich die Situation zuspitzte, um so eifriger war England bemüht, 
seinen Schützling Delcass€ zu halten. Die englische Regierung ließ Delcasse 
wissen, daß sie ihn nicht sitzenlassen würde. Frankreich möge ruhig die 
Konferenz ablehnen und abwarten, ob Deutschland es wagen würde, die 
Offensive zu ergreifen. Delcasse versicherte bestimmt und wiederholt seinen 
Ministerkollegen, daß England bereit wäre, 150000 Mann nach Holstein 
zu werfen, die einen großen Teil der deutschen Landarmee von der deutschen 
Westgrenze abziehen würden. Am 6. Juni fand in Paris die entscheidende 
Ministersitzung statt. Delcasse vertrat die Ansicht, daß, wenn Frankreich 
auf seiner Ablehnung der Konferenz mit Festigkeit beharre, Deutschland 
zurückweichen, d.h. eine Demütigung dem Kriege vorziehen würde. Der 
Kriegsminister Bertaux zeigte sich weniger zuversichtlich. Der Minister- 
präsident Rouvier gab die Entscheidung, alser die Überzeugung aussprach, 
daß Delcasse sich täusche, wenn er glaube, daß Deutschland nur blufle. 
Der Ministerrat sprach sich für die Beschickung der Konferenz, also gegen 
Delcasse, aus. Da erhob sich dieser, erklärte seinen Austritt aus der Re- 
gierung und verließ tief gekränkt den Sitzungssaal. Er sollte erst acht Jahre 
später, vier Jahre nach meinem Rücktritt, wieder auf der großen politischen 
Bühne erscheinen, als ihm 1913 die Botschaft in St. Petersburg übertragen 
wurde, wo er alle Hebel in Bewegung setzte, um Rußland für den Krieg 
gegen Deutschland zu gewinnen und in diesen Krieg hineinzutreiben. 
Wenn er sich 1905 vergeblich bemüht hatte, entweder den Revanchekrieg 
oder eine tiefe Demütigung Deutschlands herbeizuführen, so war er 1913 
der Sturmvogel, der dem Gewitter vorauszog, das sich ein Jahr später 
entlud. Die Beseitigung von Delcasse hat uns den Frieden für viele Jahre 
Sturz 
Delcasses
	        
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