Rouvier
wünscht Ver-
ständigung
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lassen wollten, Frankreich zum Kriegsbündnis mit England zu bewegen,
um uns dann mit der englischen Flotte zu überfallen. Daß wir dies verhin-
derten, war gerade damals, wo wir uns mit unserem Flottenbau auf der
Mitte des Weges befanden, besonders wichtig. Rouvier, der an die Stelle
von Delcasse trat, war, wie alle französischen Minister, die seit 1871, seit
dem Frankfurter Frieden in dem schönen Palais am Quai d’Orsay gewaltet
haben, durch und durch Patriot. Er hatte Gambetta nahegestanden. Sein
Aufstieg ist charakteristisch für das dramatische Element, das die franzö-
sische Geschichte und französische Politik so anziehend macht. Wenige Tage
nachdem die französische Nationalversammlung in Bordeaux den Prälimi-
narfrieden mit Deutschland angenommen hatte, begegneten sich in der
Hauptstadt der Gironde zwei junge Südfranzosen, Cremieux und Rouvier.
Seit langem befreundet, überlegten sie miteinander, was sie unter den ob-
waltenden Verhältnissen anfangen sollten. Cr&mieux schlug vor, nach
Marseille zu fahren, wo die radikale Partei, der sie beide angehörten, sich
der Gewalt bemächtigt habe. Als Wahlmacher von Gambetta hatte
Cr&mieux dort Beziehungen und Einfluß. Rouvier meinte, es sei ratsamer,
mit Thiers nach Versailles zu gehen. Am nächsten Morgen traf Cremieux
in Marseille ein, er wurde dort von seinen Freunden empfangen und nach
dem Rathaus geleitet, wo er die Kommune von Marseille proklamierte und
sich selbst zum Chef der Kommune. Im Laufe des Nachmittags wurde er
von dem in Marseille kommandierenden General, der nicht den Kopf ver-
loren hatte, arretiert und im Laufe der darauffolgenden Nacht nach franzö-
sischer, in allen französischen Revolutionen bewährter Tradition er-
schossen. Gambetta kam, auch nachdem er der mächtigste Mann in Frank-
reich geworden war, nie nach Marseille, ohne der Witwe von Cremieux
einen Besuch abzustatten. Der vorsichtigere Rouvier überstand im Schatten
von Thiers die Krisis der Kommune, ließ sich 1876 in die Deputierten-
kammer wählen, wurde 1881 Handelsminister, 1887 und dann wicder 1905
Ministerpräsident. Er kam nach und nach nicht nur zu erbeblichem politi-
schem Einfluß, sondern als geschickter Financier auch zu einem nicht un-
bedeutenden Vermögen. Er stand in guten Beziehungen zu der Pariser
Hautefinance, namentlich zum Hause Rothschild. Er war für die nach dem
Rücktritt von Delcasse entstandene Situation der gegebene Mann,daerschon
im Hinblick auf die französischen Finanzen vor allem den Frieden wollte.
Schon vor dem Rücktritt von Delcasse hatte mir der Unterstaatssekretär
von Mühlberg, dessen ruhiges und abgewogenes Urteil sich mehr und
mehr bewährte, geschrieben: „Alle Anregungen, die von Delcasse kommen,
möchte ich für Versuche halten, uns aus unserer jetzigen Position herauszu-
drängen, ohne uns Ernsthaftes zu bieten. Nicht so mit Rouvier, der vor
allem Finanzmann ist. Wie alle Leute dieser Kategorie will er in dieser