Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

Rouvier 
wünscht Ver- 
ständigung 
124 ROUVIER 
lassen wollten, Frankreich zum Kriegsbündnis mit England zu bewegen, 
um uns dann mit der englischen Flotte zu überfallen. Daß wir dies verhin- 
derten, war gerade damals, wo wir uns mit unserem Flottenbau auf der 
Mitte des Weges befanden, besonders wichtig. Rouvier, der an die Stelle 
von Delcasse trat, war, wie alle französischen Minister, die seit 1871, seit 
dem Frankfurter Frieden in dem schönen Palais am Quai d’Orsay gewaltet 
haben, durch und durch Patriot. Er hatte Gambetta nahegestanden. Sein 
Aufstieg ist charakteristisch für das dramatische Element, das die franzö- 
sische Geschichte und französische Politik so anziehend macht. Wenige Tage 
nachdem die französische Nationalversammlung in Bordeaux den Prälimi- 
narfrieden mit Deutschland angenommen hatte, begegneten sich in der 
Hauptstadt der Gironde zwei junge Südfranzosen, Cremieux und Rouvier. 
Seit langem befreundet, überlegten sie miteinander, was sie unter den ob- 
waltenden Verhältnissen anfangen sollten. Cr&mieux schlug vor, nach 
Marseille zu fahren, wo die radikale Partei, der sie beide angehörten, sich 
der Gewalt bemächtigt habe. Als Wahlmacher von Gambetta hatte 
Cr&mieux dort Beziehungen und Einfluß. Rouvier meinte, es sei ratsamer, 
mit Thiers nach Versailles zu gehen. Am nächsten Morgen traf Cremieux 
in Marseille ein, er wurde dort von seinen Freunden empfangen und nach 
dem Rathaus geleitet, wo er die Kommune von Marseille proklamierte und 
sich selbst zum Chef der Kommune. Im Laufe des Nachmittags wurde er 
von dem in Marseille kommandierenden General, der nicht den Kopf ver- 
loren hatte, arretiert und im Laufe der darauffolgenden Nacht nach franzö- 
sischer, in allen französischen Revolutionen bewährter Tradition er- 
schossen. Gambetta kam, auch nachdem er der mächtigste Mann in Frank- 
reich geworden war, nie nach Marseille, ohne der Witwe von Cremieux 
einen Besuch abzustatten. Der vorsichtigere Rouvier überstand im Schatten 
von Thiers die Krisis der Kommune, ließ sich 1876 in die Deputierten- 
kammer wählen, wurde 1881 Handelsminister, 1887 und dann wicder 1905 
Ministerpräsident. Er kam nach und nach nicht nur zu erbeblichem politi- 
schem Einfluß, sondern als geschickter Financier auch zu einem nicht un- 
bedeutenden Vermögen. Er stand in guten Beziehungen zu der Pariser 
Hautefinance, namentlich zum Hause Rothschild. Er war für die nach dem 
Rücktritt von Delcasse entstandene Situation der gegebene Mann,daerschon 
im Hinblick auf die französischen Finanzen vor allem den Frieden wollte. 
Schon vor dem Rücktritt von Delcasse hatte mir der Unterstaatssekretär 
von Mühlberg, dessen ruhiges und abgewogenes Urteil sich mehr und 
mehr bewährte, geschrieben: „Alle Anregungen, die von Delcasse kommen, 
möchte ich für Versuche halten, uns aus unserer jetzigen Position herauszu- 
drängen, ohne uns Ernsthaftes zu bieten. Nicht so mit Rouvier, der vor 
allem Finanzmann ist. Wie alle Leute dieser Kategorie will er in dieser
	        
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