NOCH KEINE FRANZÖSISCHEN VORSCHLÄGE 125
seiner hervorragenden Eigenschaft den Frieden. Er möchte. keine Ver-
wicklungen mit uns. Ich möchte deshalb seine Annäherungsversuche für
ehrlich gemeint halten. Sie bestehen eine Prüfung, wenn Radolin auf seine
Friedenswünsche mit uns eingeht und ihm bei gegebener Gelegenheit, die
er aber nicht zu suchen hat, sagt: Bist du wirklich so versöhnlich und
deutschfreundlich gesinnt, nun gut — eine Konferenz ist der beste Weg,
die Sache zu ordnen. Wir werden dann hören, ob Rouvier seine Freund-
schaftsschalmei weiterbläst. Die Konferenz ist nicht allein ein äußerer
Erfolg unserer Politik, der im Ausland wie im Inland uns Prestige verleiht,
sie kann auch materiell gut von uns ausgefüllt werden.“ Der Gesandte Graf
Tattenbach hatte, nachdem er sich de visu in Fez von der Zerfahrenheit
und Verrottung der Verhältnisse im Scherifischen Reich, dem Maghreb el
Aksa, überzeugt hatte, den Vorschlag gemacht, Frankreich und Spanien
die Teilung von Marokko nach Interessensphären vorzuschlagen. Dieser
Gedanke hätte sicherlich zunächst den stürmischen Beifall aller Alldeutschen
gefunden, ich glaube aber noch heute, daß Herr von Mühlberg sich nicht
irrte, wenn er in seinem Votum vom 30. April ausführte: „Wenn nach
Dezennien ein Historiker in unseren Archiven das Telegramm Nr. 1084
ausgräbt, so wird er wahrscheinlich sagen: Der Gesandte hat recht gehabt.
Warum wirft sich die deutsche Politik zur Schützerin von Reichen auf, die
wie Türkei und Marokko durch den Lauf der Geschichte zum Untergang
bestimmt sind? Allein wir armen Zeitgenossen müssen mit den gegebenen
Tatsachen rechnen. Einer Politik, wie sie Graf Tattenbach inauguriert zu
sehen wünscht, steht zuerst der Widerwille Seiner Majestät entgegen, der
kein militärisches Festlegen in Marokko wünscht, und dies müßte ins Auge
gefaßt werden, sobald wir dort uns eine Interessensphäre aneignen. Sodann
stehen dieser Politik entgegen unsere bisherigen Erklärungen und Versiche-
rungen, den Status quo zu erhalten und nur für ‚open door‘ zu fechten.“
Positive Vorschläge wegen einer Verständigung über Marokko sind uns
1905 von französischer Seite überhaupt nicht gemacht worden. Das stellte
sechs Jahre später in der Sitzung der Budgetkommission des Reichstags
vom 11. November 1911 der damalige Staatssekretär des Auswärtigen
Amts von Kiderlen-Waechter fest, indem er ausführte: Nach der Tangerreise
des Deutschen Kaisers habe Delcasse den Versuch einer direkten Verhand-
lung mit uns gemacht, der aber mangels positiver Vorschläge von franzö-
sischer Seite zu keinem Ergebnis geführt hätte. Nach dem Rücktritt von
Delcasse habe Rouvier auf offiziellem und ofhiziösem Wege dem Wunsch
nach einer Verständigung mit uns Ausdruck gegeben, wobei zum erstenmal
das Wort „Kongo“ gefallen wäre. Wir hätten positive Vorschläge erbeten,
ohne damit zu irgendeinem Ergebnis zu kommen. „Inzwischen“, schloß
Kiderlen seine damaligen Ausführungen, „hatten wir uns auf den Stand-