GEFAHR IN RUSSLAND 129
in der alten Form nicht wieder zurückzubringen wäre. Hierbei betonte ich
immer wieder, daß bei einer vorsichtig und einigermaßen klug geführten
deutschen Politik ein gutes und freundschaftliches Verhältnis mit Rußland
auch ohne Staatsvertrag möglich sei. Der Wunsch, mit Rußland zu einem
vertragsmäßigen Verhältnis zu gelangen, tauchte bei Wilhelm II. wieder
schr lebhaft auf, als ihm der Zar infolge des für Rußland unerfreulichen
Ganges des Russisch- Japanischen Krieges anlehnungsbedürftiger erschien.
Es waren nicht allein die Erfolge der wie von Wilhelm II. so auch vom
russischen Hofe lange verachteten Japaner, die dem Zaren Sorgen ein-
Nößten. Auch im Innern des russischen Riesenreichs gestaltete sich die
Lage kritisch. Die Großfürstin Maria Pawlowna schrieb an ihren Onkel,
den Prinzen Heinrich VII. Reuß, unseren ehemaligen Botschafter in
St. Petersburg, Konstantinopel und Wien, der mir auch diesen Brief ver-
traulich mitteilte: Der Arbeiterunruhen sei man Herr geworden durch die
Macht der Truppen. Die Geister aber hätten sich nicht beruhigt. Im
Gegenteil, aller Klassen und Kreise habe sich eine Art Fieber bemächtigt,
und jeder glaube sich berufen, das Vaterland zu retten und zu führen.
Dieser allgemeine Zustand sei ein nur zu günstiger Boden für ernste Um-
sturzpläne, und die Leute wären auch nicht müßig pour exploiter et diriger
le mouvement. Es hieß weiter in diesem Schreiben: „Das Traurigste bei
dem allen ist der totale Mangel d’une ligne de conduite von oben. Man
schwankt von einem System zum andern, oft von einem Tag zum andern,
und Du kannst Dir denken, wie das alles zurückwirkt. Darum ist auch wenig
Hoffnung und Rettung, und die scheinbaren Reformen haben keinen Ge-
halt, denn man läßt ihnen keine Zeit. Kaum ausposaunt, sind sie schon
durch neue ersetzt, meistens gelähmt. Man will oder kann nicht klar sehen,
und warnende Stimmen wie zum Beispiel Wladimirs bleiben ohne Erfolg.
Ich fürchte, Attentate werden bald ihre Schrecken verbreiten und die all-
gemeine Konfusion noch vergrößern. Könnte ein halbwegs anständiger
Frieden bald kommen, ließe sich die Geschichte vielleicht noch aufhalten.
Eine feste, energische Hand könnte überhaupt alles noch retten. Nun, das
steht in Gottes Willen. In treuer Liebe Maria.‘ Ähnlich wie die Großfürstin
Wladimir sprach sich mir gegenüber vertraulich der russische Botschafter
Osten-Sacken aus. Die Hauptgefahr wurzle in einem allgemeinen Gefühl
von Unsicherheit. Beinahe weinend resümierte der greise Diplomat seine
Ansicht in die Worte: „Un peu d’energie pourrait nous sauver, mais on ne
la voit paraitre nulle part.‘ Für Osten-Sacken stand nach seiner eigenen
Mentalität wie nach den Traditionen seiner Familie die Rettung der russi-
schen Dynastie in erster Linie. Deshalb war er gegen einen Frieden mit
Japan um jeden Preis. Einen solchen wünschten nach seiner Angabe
Liberale und Umstürzler, die in Rußland manchmal schwer zu unterscheiden
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