EIN BRIEF, DEN DIE BOLSCHEWISTEN VERÖFFENTLICHEN 133
Allianzvertrages vielleicht die russische Zustimmung finden konnte. Als
Zweck dieses Vertrages war im Eingang der Wunsch bezeichnet worden,
den Russisch- Japanischen Krieg möglichst zu lokalisieren. Der defensive
Charakter des Bündnisses wurde in den Vordergrund gestellt. In Artikel I
bieß es, daß, wenn eines der beiden Kaiserreiche angegriffen werden sollte,
sein Verbündeter mit allen seinen Streitkräften zu Lande und zur See ihm
beistehen müsse. Vorkommendenfalls würden die beiden Verbündeten
gemeinsame Sache machen, um Frankreich zur Beachtung der Verbind-
lichkeiten aufzufordern, die es nach dem Wortlaute des französisch-
russischen Bündnisvertrages übernommen habe. Durch Artikel II ver-
pflichteten sich die beiden hohen Parteien, keinen Scparatfrieden mit
irgendeinem gemeinsamen Feinde zu schließen. Artikel III bestimmte die
Verpflichtung zu gegenseitiger Hilfeleistung auch für den Fall, daß Hand-
lungen, die von einer der beiden vertragschließenden Parteien während des
Krieges vollzogen worden wären, wie z.B. die Lieferung von Koblen an
einen der Kriegführenden, Reklamationen seitens einer dritten Macht als
angebliche Verletzung des Neutralitätsrechts veranlassen sollten. Ich hatte
Seiner Majestät vorgeschlagen, den Vertragsentwurf dem Zaren mit einem
von mir aufgesetzten, kurzen und rein sachlichen Brief zugehen zu lassen.
Der Kaiser erweiterte aber mein diesbezügliches Konzept zu einem langen
Schreiben, von dem die Welt fünfzehn Jahre später Kenntnis erhielt, als die
Bolschewisten die von ihnen aufgefundenen Briefe des Kaisers an den Zaren
veröffentlichten. Wenn es in diesem Schreiben hieß, daß das deutsche Aus-
wärtige Amt von der Antwort des Kaisers nichts wisse, so stand diese
Versicherung mit der Wirklichkeit nicht im Einklang. Der etwas sentimen-
tale Taufsegen, den ich, nach dem Schreiben Seiner Majestät, nach erfolgter
Redaktion des Vertragsentwurfs über den Entwurf gesprochen haben sollte
(„Möge Gottes Segen ruhen auf dem Vorhaben der beiden Herrscher und
die mächtige dreifache Gruppe Rußland, Deutschland, Frankreich für
immer Europa den Frieden bewahren helfen, das walte Gott!“), war nur die
malerische Ausschmückung eines an und für sich nüchternen Vorgangs,
wie der Kaiser sie liebte.
Wie ich das vorausgesehen und Seiner Majestät vorausgesagt hatte,
scheiterten unsere Bündnispläne an dem Widerspruch von Lambsdorff,
dem cs gelang, seinen Herrscher davon zu überzeugen, daß der deutsche
Vorschlag mit dem russisch-französischen Bündnis in Widerspruch stünde,
diesem h£ritage sacrE de feu l’Empereur Alexandre III d’imperissable
memoire, und obschon ich gegenüber den Bedenken des schwankenden
Zaren dessen Wünschen in einem zweiten Vertragsentwurf tunlichst
Rechnung trug. Ob der Widerstand des Grafen Lambsdorff auch dann
so hartnäckig gewesen wäre, wenn er nicht früher von Wilhelm II.