DIE ERMORDUNG DES GROSSFÜRSTEN SERGEI 161
steigenden revolutionären Bewegung in Rußland. Bis dahin hatte Rußland
nur Palastrevolutionen und Adelsverschwörungen gekannt. Ein russischer
Bauer drückte das gegenüber dem mir befreundeten Grafen Lewaschow
nach der Ermordung des Kaisers Alexander II. mit den Worten aus:
„Früher war es nur den großen Herren erlaubt, einen Zaren umzubringen,
jetzt macht das aber auch den kleinen Leuten Spaß.“ Die Reden, die der
arıne junge Kaiser Nikolaus II. von Zeit zu Zeit an Arbeiterdeputationen
oder Abordnungen von Bauern richtete, waren matt und machten keinen
Eindruck. Weitere Attentate erfolgten in rascher Folge. Der Großfürst
Wladimir, der neue Minister des Innern Bulygin, der für energisch galt,
der Generalgouverneur Trepow selbst entgingen nur mit Mühe den für sie
bestimmten Kugeln. Die meisten großen Städte waren der Schauplatz
blutiger Straßenkämpfe. In Russisch-Polen kam es neben sozialistischen
Unruhen auch zu national-polnischen Emeuten.
Der Großfürst Sergei, Schwager und Oheim des Zaren, wurde in dem
Augenblick ermordet, wo Prinz Friedrich Leopold von Preußen am rus-
sischen Hofe weilte. Der Prinz erzählte mir nach seiner Rückkehr, die Nach-
richt von dem in Moskau verübten Verbrechen wäre in Peterhof, wo sich
der Zar aufhielt, zwei Stunden vor der Abendtafel eingetroffen. Der Prinz
ließ sich erkundigen, ob die Abendtafel stattfinden würde, oder ob der von
einem solchen Schicksalsschlag betroffene Kaiser lieber allein sein wolle.
Der Prinz erhielt die Antwort, daß er ruhig zum Diner kommen möge.
Die Kaiserin erschien allerdings nicht, dagegen waren der Kaiser und
sein gleichfalls anwesender Schwager, der Großfürst Alexander Michailo-
witsch, in bester Stimmung. Von der Ermordung des Großfürsten war
überhaupt nicht die Rede. Nach Tisch amüsierten sich der Kaiser und
sein Schwager damit, daß sie vor den Augen des erstaunten deutschen
Gastes sich gegenseitig von einem schmalen und langen Sofa herunter-
zudrängeln suchten. In derselben Stunde betrat die Großfürstin Sergei,
eine Prinzessin von Hessen-Darmstadt, allein den Kerker, in dem der
Attentäter, der ihren Gatten ermordet hatte, vor seiner auf den nächsten
Tag angesetzten Hinrichtung gefangensaß. Sie frug ihn, weshalb er ihr in
so grausamer Weise den Gatten geraubt hätte. Der Mörder erwiderte, er
hätte persönlich nichts gegen den Großfürsten gehabt, und es betrübe ihn,
der Großfürstin Schmerz bereitet zu haben, aber seine Grundsätze hätten
ihm das Attentat zur Pflicht gemacht. Als die Großfürstin den Kerker
verließ, verneigte er sich vor ihr und küßte den Saum ihres Kleides. Die
Großfürstin Elisabeth Feodorowna ist bekanntlich im Juni 1918 in
Alajagawesk, einem kleinen Städtchen im Ural, von Bolschewisten in
einen tiefen Schacht gestürzt worden. Auf den noch lebenden, aber zer-
schmetterten und röchelnden Leib wurde ungelöschter Kalk geschüttet.
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