Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

Brief 
Tschirschkys 
zum Björkö- 
Vertrag 
162 DAS SATYRSPIEL VON BJÖRKO 
Die Schwester der Großfürstin, die in England lebende Prinzessin Viktoria 
von Battenberg, erreichte durch Mittelspersonen die Herausgabe der Leiche, 
die sie in Jerusalem am Fuße des Ölberges in geweihter Erde beisetzen ließ. 
George Sand hat die richtige Bemerkung gemacht: ‚que la vie ressemble 
plus au roman que le roman a la vie“. Die Geschichte verzeichnet entsetz- 
lichere Tragödien, als sie die Phantasie der größten Dichter, eines Äschylos 
oder Shakespeare, zu ersinnen vermochte. 
Damit dem Drama von Björkö neben seinen tragischen Momenten auch 
ein Satyrspiel nicht fehle, erhielt ich Mitte August ein längeres Entschul- 
digungsschreiben des den Kaiser damals auf seinen Reisen als Vertreter 
des Auswärtigen Amtes begleitenden Gesandten von Tschirschky. Der 
füblte natürlich, daß er während der Entrevue von Björkö vollkommen 
versagt hatte, indem er, nur bestrebt, Seiner Majestät nach dem Munde zu 
reden, und stets in Angst, das Allerhöchste Mißfallen zu erregen, weder auf 
die Schädlichkeit des Zusatzes „en Europe“ hingewiesen noch überhaupt 
davor gewarnt hatte, ohne Zuziehung des deutschen Reichskanzlers und des 
russischen Ministers des Äußern einen Staatsvertrag mit der unbesonnenen 
Schnelligkeit abschließen zu wollen, mit der sich kaum ein Leutnant ver- 
loben würde. In einem mit „Privat“ und „Ganz vertraulich‘ bezeichneten 
Brief schrieb er mir, daß er „einem inneren dringenden Bedürfnisse fol- 
gend‘ mir einige Betrachtungen unterbreiten müsse, die mir mündlich 
vorzutragen er nicht den Mut gefunden habe. Er sei mir eine Antwort auf 
die von mir an ihn gerichtete Frage schuldig, warum er mich nicht besser 
über alle Vorgänge vor und in Björkö unterrichtet hätte. Er habe dies 
unterlassen, weil seine Versuche, mir außeramtlich näherzutreten, die 
„aus seinem innersten Herzen‘ hervorgegangen seien, bei mir nach seiner 
Empfindung kühler Zurückhaltung begegnet wären. Insbesondere wären 
weder er noch seine Gattin, obwohl sie regelmäßig Karten bei mir gelassen 
hätten, in der letzten Zeit mit einer Einladung in mein „sonst so gast- 
freies Haus‘ beehrt worden. Im Winter 1903 auf 1904 wäre er fast eine 
ganze Woche in Berlin gewesen, ohne vom Reichskanzler zu Tisch geladen 
zu werden. Das hätte ihn doppelt geschmerzt, weil er gehofft habe, von mir 
einige tröstende Worte zu hören, nachdem er zu seinem Kummer bei einer 
kürzeren Reise Seiner Majestät „übergangen“ worden sei. Nichts wäre 
ihm mehr zuwider als der Gedanke, sich aufzudrängen, er würde auch nie 
wagen, dem Kanzler Vorschriften machen zu wollen, aber seine betrübte 
Stimmung und die aus dieser Stimmung hervorgehende Zurückhaltung 
wären doch begreiflich. Vor zwei Jahren hätte ich ihm wegen eines Ver- 
sehens einen dienstlichen Verweis erteilt, der ihn, der sich mehr als „‚deut- 
scher Edelmann und sächsischer Kammerherr“ fühle wie als Beamter, tief 
verletzt habe. Er nähme sich nicht heraus, an mir Kritik zu üben, glaube
	        
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