DIE RUSSEN UND DIE PARISER HETÄREN 173
vorderhand das wichtigste Erfordernis sei. Frankreich würde in eine sehr
schwierige Lage kommen, und König Eduard würde diese Situation aus-
nutzen, wenn jetzt nicht peinlichste Stille waltete. Besonders eifrig
wandte sich Witte gegen Benckendorff und Nelidow. Wie weit sein Einfluß
in dieser Hinsicht reichen wird, Wandlung zu schaffen, lasse ich dahin-
gestellt. Er hat den Eindruck, daß ihm der Besuch in Rominten und die
Wiedergabe des Gesprächs mit S. M. nützen werden — um so mehr, als er in
der Lage ist, seinem Herrn allerhand Details über englische Machenschaften
zu geben, die den Zaren höchst unangenehm berühren müssen. Hoffen wir
das Beste! Den Inhalt seiner Besprechung mit Witte wird Dir S. M. mit-
teilen. Es führt mich hier zu weit — und ich habe schon viel mehr getan,
als ich mit meiner elenden Gesundheit vermag.“
Am 27. September 1905 berichtete Eulenburg mir weiter: „Witte war
gestern abend beim Souper ganz aufgetaut und erzählte sehr behaglich.
Ob ihn nach dem Essen eine endlose Erzählung Hollmanns über einen
Schiffschronometer, der nicht aufgezogen war, und eine Erzählung des
Kaisers über eine Boje, die eigentlich eine andere hätte sein sollen, sehr
begeistert haben wird, bezweifle ich. Als aber darauf gar Richard Dohna
eine schr ernste Geschichte von einem Erdbeben erzählte, bei dem sich
gar nichts ereignete, sagte ich, daß eine Dame durch ein Erdbeben einen
Nervenschock erlitten habe und so empfindlich geblieben sei, daß sie, als
auf einer Station ein Kellner sehr laut ‚Erdbeeren! rief, in Ohnmacht fiel.
Diese dumme Geschichte erregte so große Heiterkeit, daß die Majestäten
aufstanden und zur Erlösung Wittes zu Bette gingen. Es war eine Pille,
die endlich zu Stuhle führte. Heute früh um Y49 fand die gemeinschaftliche
Mahlzeit statt, an der auch Witte, den Schlaf noch in den Augen, teilnahm.
Um 9 Uhr fuhr der Kaiser mit Witte und mir zur Station. Die Unterhaltung
drehte sich meist um Frankreich und die Schwierigkeit, es zu ködern. Bei
der Rückfahrt sprach S. M. alles nochmals mit mir durch. Wie immer bei
solchen Gelegenheiten schätzte er die Werte zu hoch ein.“ Über die russi-
schen Botschafter in London und Paris, Graf Alexander Benckendorff
und Alexander Iwanowitsch Nelidow, hatte sich Witte auch mir gegen-
über sehr abfällig ausgesprochen. Er meinte, daß der letztere, der früher ein
ausgesprochener Anhänger guter Beziehungen zu Deutschland gewesen wäre,
jetzt alles mit französischen Augen ansche unter dem bestrickenden Einfluß
der Pariser Hetären, in deren Armen der schon siebzigjährige Nelidow nicht
nur seine Gesundheit, sondern auch seinen früheren politischen Scharf-
blick eingebüßt habe. Mit Benckendorff stünde es noch übler. Trotz seiner
wohlhabenden Frau stäke er oftin Geldschwierigkeiten. Er, Witte, habe als
Finanzminister in früheren Zeiten mehrfach die Schulden von Benckendorff
bezahlen müssen, auf Wunsch der Kaiserin-Mutter, deren Wohlwollen