Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

Prinz 
Heinrich VII. 
Reuß über 
Petersburg 
6 GEFAHR FÜR DIE RUSSISCHE DYNASTIE 
Nicht lange nach der Begegnung unseres Kaisers mit dem russischen 
Kaiserpaar in Wollsgarten hatte ich von meinem früheren Chef in St. Peters- 
burg und späteren langjährigen Gönner und Freund, dem Prinzen 
Heinrich VIl. Reuß, einen nicht uninteressanten Brief über russische Hof- 
vorgänge und Hofzustände erhalten. Er hatie auf seinem Gute Trebschen in 
der Neumark den Besuch seiner Nichte, der Großfürstin Wladimir, erhalten. 
Über die vertraulichen Mitteilungen der schönen Frau schrieb er mir: „Von 
allem, was ich habe hören können, habe ich einen recht unerfreulichen Ein- 
druck gewonnen. Der gute Wille, die bessere Einsicht des Kaisers Nikolaus 
kommen nicht zur Geltung, weil Tatkraft gänzlich fehlt und auch Inter- 
esse an den Geschäften. Auch weil sich Einflüsse geltend machen, die 
perniziös sind, und zwar von weiblicher Seite, mit einer bedenklichen Bei- 
mischung von Mystizismus, deren Trägerinnen die montenegrinischen Prin- 
zessinnen sind, welche ihrerseits entschiedenen Einfluß auf die regierende 
Kaiserin ausüben, ein Einfluß, dem selbst die Kaiserin-Mutter nicht mehr 
gewachsen ist. Beispiel: die Ungnade Wittes, der sich weigerte, Geld für den 
Beherrscher der Schwarzen Berge herzugeben in dem Umfange, wie es von 
den Töchtern verlangt wurde. In dem Hang zu dem mystischen Treiben 
dieser Clique liegt nach der Überzeugung der Großfürstin Wladimir eine 
große Gefahr für die Dynastie. Das russische Volk wittere Unrat, und da- 
durch litte das Ansehen Väterchens. Das würde von der revolutionären 
Partei geschickt benutzt, um das kaiserliche Ansehen noch mehr zu unter- 
graben. Die Nihilisten hätten ihre Taktik geändert. Nicht mehr Mord des 
Dynasten, sondern Schüren gegen seine dynastische Unfehlbarkeit in den 
breiten Schichten des Volks sei heute die Losung. Und oben sei man voll- 
kommen blind gegen diese Gefahr, bilde sich ein, alles ginge zum besten, 
und wenn man überhaupt jemand Gehör schenke, so sei es denen, die alles 
schön zu färben verstünden. Niemand werde gehört, und mit eifersüchtigen 
Augen würden diejenigen beobachtet resp. abgedrängt, die den Mut hätten, 
die Wahrheit zu sagen.“ 
Diesen Mitteilungen seiner Nichte, der Großfürstin, fügte Prinz Reuß 
hinzu: „Erfreulich ist, daß der Zar Sympathie für unseren Allergnädig- 
sten Herrn hat, und wenn das Wasser auch keine Balken hat und ein 
unsicheres Element ist, so sind doch die Rendezvous auf demselben 
eine treflliche Erfindung, besonders auch deshalb, weil das Ewigweib- 
liche davon ausgeschlossen bleibt. Zur größten Vorsicht ist aber zu raten, 
nicht zu viel Avancen zu machen. Das macht dort den entgegengesetzten 
Effekt des Gewünschten. Die Leidenschaft für den Alliierten an der Seine 
scheint nur künstlich genährt zu werden. Über Lambsdorff meinte die 
Großfürstin, es fehle ihm viel zum hervorragenden Staatsmann, aber er 
wäre zuverlässig.“
	        
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