Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

DER UMGETAUFTE BISMARCK-PLATZ 223 
kleine, an sich untergeordnete Symptome im öffentlichen Leben weniger 
scharf beobachtet, als wenn er während einer auch nur kurzen Zeit der Ruhe 
und Ausspannung die Zeitereignisse verfolgt. Ich erinnere mich des schmerz- 
lichen Eindrucks, den es mir machte, als ich bald nach meiner Ankunft in 
Norderney las, daß der Gemeinderat von Waldshut in Baden den dortigen 
Bismarck-Platz in St.- Josefs-Platz umgetauft habe. Dazu hatte ein klerikal- 
partikularistisches Blatt, „Der badische Landsmann“, geschrieben: 
„Bravo! Es ist an sich ein Zeichen großer Charakterschwäche, daß bei uns 
im Badener Land Bismarck solche Verehrung genießt. Wir Badener sollten 
uns doch etwas mehr auf uns selbst besinnen und bedenken, daß Bismarck 
es war, der ad majorem gloriam Borussiae uns anno 1866 den blutigen 
Krieg aufgehalst und nachher verschiedene Silberlinge abgeknöpft hat. 
Mögen All- und Stalldeutsche Bismarcksäulen bauen und alljährlich am 
1. April, an dem man nichts ernst nimmt, darauf ihrem Götzen Bismarck 
ein Rauchopfer darbringen — wenn sie einen Stier oder besser einen (aber 
vierbeinigen) Esel darauf brieten, wäre das Ganze noch natürlicher —, das 
badische Volk als solches hat keinen Teil daran.“ In welche abgrundtiefe 
Gemeinheit, Dummheit und Vaterlandslosigkeit ließen solche Auslassungen 
blicken! War eine solche Sprache in Italien über Cavour oder Minghetti, in 
Frankreich über Thiers oder Gambetta, in England über Disraeli oder 
Gladstone auch nur denkbar? Ja, Treitschke hat recht: Es gibt Niedrig- 
keiten, zu denen nur in Deutschland der Parteihaß hinabsteigt. Während 
ich diese Zeilen diktiere, liegt der Artikel eines deutschen Intellektuellen 
vor mir, des „Kunstschriftstellers‘‘ Julius Meier-Graefe, der in der „Neuen 
Rundschau“ vom September 1922 über die von ihm bei einem Ausfluge 
nach Paris dort empfangenen Eindrücke schreibt: „Was vermochte ein 
Weltkrieg gegen dieses Paris! Es ist hundertmal schöner hier als früher, da 
wir um ebensoviel häßlicher geworden sind. Auch die Menschen sind nicht 
anders. Wie sollten sie? Wie könnten sie, selbst wenn sie möchten ? Soll die 
Sprache der Racine, Stendhal und Flaubert plötzlich krächzen? Soll 
das Mädchen, das von Fouquet bis Renoir lächelnd gemalt wurde, auf 
einmal Grimassen schneiden ? Kann die Place de la Concorde verschwinden ? 
Es war auch kein reizloses Vergnügen, wieder einmal richtigen Camembert 
zu essen. Ich muß Ihnen sagen, daß ich die ersten drei Tage morgens, 
mittags und abends Camembert zu mir genommen habe. Dabei die Unter- 
haltung beim Essen in dem Ton, den es nur in Paris gibt!... Die Pazi- 
fisten sind den Parisern so etwas wie in der Kunst die Kubisten, die längst 
abgewirtschaftet haben. Auch von den sogenannten deutschen Greueltaten 
wird nicht mehr gesprochen. Legen wir den Krieg ad acta. Aber Reparieren, 
um Gottes willen, und n’en parlons plus. Der Rentner-Instinkt der Fran- 
zosen wird von uns gründlich unterschätzt. Auch er gehört zur franzö-
	        
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