Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

BETHMANN HOLLWEG UND DIE WIEDERHERSTELLUNG POLENS 245 
Weltlage aus dem schmalen Gesichtswinkel ihrer engeren Heimat beur- 
teilten. So rührend, ja bis zu einem gewissen Grade begreiflich dieser Lokal- 
patriotismus der in einem jahrhundertjährigen Kampf für ihr Deutschtum 
gestählten Balten nun auch ist, so hatte eine solche Unterordnung der 
Reichsinteressen, der nationalen Salus publica unter die Leidenschaften 
und Hoffnungen eines kleinen Bruchteils des Germanentums doch ihre 
großen Bedenken. Bei Schiemann kam dazu, daß er persönlich zu den 
Schmeichlern gehörte, die seit jeher gerade für die Fürsten gefährlich 
waren, deren Phantasie nicht genügend durch nüchterne Überlegung 
gezügelt wurde. Hintze war unser tüchtiger Marineattache in St. Peters- 
burg, der sich dort eine bedeutende Stellung gemacht und nützliche Ver- 
bindungen angeknüpft hatte. Tirpitz war eine Kraft ersten Ranges, aber 
das, was die Franzosen „un mauvais coucheur“ nennen. Es war nicht leicht 
mit ibm auszukommen. Die Behauptung Seiner Majestät, er habe mich für 
sein pulnisches Programm gewonnen, war mir ein neuer Beweis dafür, wie 
sehr die lebhafte Art des Kaisers, seine Redseligkeit und seine Phantasie 
dazu neigten, anderen Äußerungen in den Mund zu legen, die genau so 
erfunden waren wie die Erzählungen des seligen Münchhausen. Der Kaiser 
hatte mir gegenüber die polnische Frage selten berührt, war aber von mir 
nieim unklaren darüber gelassen worden, daß ich die Wiederherstellung 
eines selbständigen Polen ale den größten Fehler betrachten würde, 
den die preußische, die deutsche Politik überhaupt, begehen könnte. Ein 
polnisches Reich an unserer Ostgrenze würde, hatte ich ihm wiederholt 
gesagt, der geborene Bundesgenosse unserer unversöhnlichen Gegner im 
Westen sein, eine polnische Armee in Warschau so viel bedeuten wie fran- 
zösische Truppen auch an unserer östlichen Flanke. Daß Bethmann llollweg 
sich für die polnischen Ideale erwärmt hatte, führte ich auf atavistische 
Regungen zurück. Der Großvater von Theobald Bethmann, der Professor 
August Moritz von Bethmann Hollweg, der seit jeher und bis zu seinem Tod 
Otto von Bismarck mit giftigem Haß bekämpfte, hatte sich in den fürffziger 
und sechziger Jahren in politischen Kreisen wie am preußischen Huf mit 
blindem Eifer für eine polenfreundliche Politik eingesetzt. 
Als ich im Spätsommer 1906, bei meiner Rückkehr nach Berlin, den 
damaligen Minister des Innern, Theubald vun Bethmann Hullweg, wieder- 
sah, stellte ich ihn bei einem gemeinsamen Abendessen im Zuologischen 
Garten mit ihm und anderen Ministerkollegen wegen seiner Stellung zur 
Poleufrage direkt zur Rede. Bethmann erwiderte mir nicht ohne Ver- 
legenheit, daß es sich bei seinen Auslassungen gegenüber Seiner Majestät 
nur um eine „rein akademische Idee“, nur um eine „Gedankenspielerei“ 
gehandelt haben könne. Als ich ihm über meinen ablehnenden Standpuukt 
gegenüber derartigen Narreteien keinen Zweifel ließ, versicherte er mir, daß
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.