Reichstags-
eröffnung und
Thronrede
280 DIE MANTILLE IHRER MAJESTÄT
am dortigen städtischen Gymnasium, Dr. Theodor Creizenach, dessen ich
in meinen „Jugenderinnerungen“ gedacht habe. Als Quartaner war ich im
Winter 1861/62 sein lernbegieriger Schüler gewesen, und sein schönes
Gedicht auf den unsterblichen deutschen Geist hatte sechsundvierzig Jahre
lang in meinem Gedächtnis gehaftet.
Die Schattenseiten der Höfe und die Enge ihrer Begriffswelt kam mir
zum Bewußtsein bei einem an und für sich sehr geringfügigen Vorgang am
Schluß des Gottesdienstes vom 27. Januar, dem Geburtstag des Kaisers.
Nach Beendigung des Gottesdienstes war mit Ausnahme der Majestäten
alles noch in der Kapelle versammelt. Meine Kollegen und die Mitglieder
des Bundesrats umringten mich, neugierig, Näheres über das Resultat der
Wahlen zu hören. Die Hofstaatsdame Gräfin Mathilde Keller, sonst ein
vortreffliches älteres Fräulein, drängte uns ungeduldig beiseite mit den
Worten: „So hören Sie doch auf mit Ihrem politischen Unfug und lassen
Sie mich durch! Ich muß Ihrer Majestät ihre Mantille bringen.‘ Dagegen
beehrte mich der sonst sehr kritische und auch mir und meiner Politik
kritisch gegenüberstehende Erbprinz Bernhard von Sachsen-Meiningen,
der Gatte der ältesten Schwester des Kaisers, der Prinzeß Charlotte von
Preußen, mit nachstehendem Brief: „Unter den Tausenden, die Euer
Durchlaucht zu dem großen Erfolg Glück wünschen, möchte auch ich nicht
fehlen. Mein Glückwunsch dem genialen Organisator des ‚inneren Sedan‘
ist um so aufrichtiger, als ich an eine so gründliche Abfertigung der staats-
feindlichen Sozialdemokratie nicht geglaubt habe und um so angenehmer
enttäuscht bin.“
Am 19. Februar fand die Eröffnung des Reichstags statt. Die Thronrede,
die ich redigiert hatte, begann mit den Worten: „Aufgerufen zur Entschei-
dung über einen Zwiespalt zwischen den verbündeten Regierungen und der
Mehrheit des vorigen Reichstags, hat das deutsche Volk bekundet, daß es
Ehr’ und Gut der Nation ohne kleinlichen Parteigeist treu und fest ge-
hütet wissen will. In solcher Bürger, Bauern und Arbeiter einigenden Kraft
des Nationalgefühls ruhen des Vaterlandes Geschicke wohlgeborgen. Wie
ich alle verfassungsmäßigen Rechte und Befugnisse gewissenhaft zu achten
gewillt bin, so hege ich zu dem neuen Reichstag das Vertrauen, daß er es
als seine höchste Pflicht erkennt, unsere Stellung unter den Kulturvölkern
verständnisvoll und tatbereit zu wahren und zu befestigen.“ Die erste
Schwierigkeit ergab sich bei der Wahl des neuen Reichstagspräsidiums.
Das Zentrum wünschte als Reichstagspräsidenten seinen Führer, Herrn
Spahn. Ich hatte an sich gar nichts gegen Herrn Spahn einzuwenden. Ich
habe überhaupt nie die Absicht gehabt, das Zentrum dauernd auszuschalten.
Es hatte sich zu meinem Bedauern selbst ausgeschaltet. Ich habe auch
niemals die nationale Gesinnung der großen Mehrheit des Zentrums