PROFESSOR SCHIEMANN 15
Kaiser von der Reise zurückkehrte, sagte mir der Chef des Militärkabinetts
Graf Dietrich Hülsen, der viel gesunden Menschenverstand besaß: „Warum
haben Sie uns diesen gräßlichen Schiemann auf die Reise mitgegeben ? Er
ist ein Schmarotzer, ein Schleicher und ein Schmeichler, das zusammen ist
zu viel.‘“ Wenn ich heute auf mein Leben zurückblicke, so muß ich gestehen,
daß, wenn Irren überhaupt menschliches Los ist, ich das Malheur hatte,
in personalibus häufig zu irren. Als ich Staatssekretär des Äußern wurde,
lenkten Waldersee und Holstein meine Aufmerksamkeit auf einen baltischen
Professor der Geschichte, Herrn Theodor Schiemann, der sich in einer
materiell bedrängten Lage befände. Ich lud ihn zu Tisch ein und fand einen
in der russischen Geschichte wohlbeschlagenen Mann. Da ich mich für Ge-
schichte immer lebhaft interessiert, auch während meines langen Aufent-
haltes in Rußland selbst russische Geschichte studiert hatte, fand ich Ge-
fallen an ihm, obwohl mich die allzu weit getriebene Unterwürfigkeit seiner
Manieren nicht angenehm berührte. Da es ihm wirklich recht schlecht zu
gehen schien, so unterstützte ich ihn gelegentlich aus dem kleinen Fonds,
der mir für solche Zwecke zur Verfügung stand. Ich erfüllte auch seinen
brennenden Wunsch, dem Kaiser vorgestellt zu werden, und ließ ihn nach
einem Diner, an dem Seine Majestät teilgenommen hatte, seine Parade-
stücke aufsagen: die Hinrichtung des unglücklichen Zarewitsch Alexei
durch seinen Vater, Peter den Großen, die Ermordung des Kaisers Peter III.
durch seine Gemahlin, die Kaiserin Katharina, die Erdrosselung des Kaisers
Paul unter stillem Mitwissen, wenn nicht mit Konnivenz seiner Gemahlin
und seines ältesten Sohnes, des Kaisers Alexander I. Ich setzte ihn auch auf
die Liste der Personen, die ich dem Kaiser vorschlug auf die Mittelimeerfahrt
mitzunehmen. Da Schiemann nicht nur sehr verhungert aussah, wodurch
er von vornherein das weiche Herz meiner Frau gerührt hatte, sondern auch
recht schäbig angezogen war, so ließ ich ihn für die Reise neu ausstaflieren.
Er erhielt einen stattlichen dunkelblauen und einen schmucken hellgrauen
Anzug, mit denen bekleidet er sich ohne Scheu dem Allerhöchsten Gefolge
anschließen konnte. Aber Theodor Schiemann vertrug wie manche andere
Gelehrte die Hofluft nicht. Er bildete sich immer mehr zum Speichellecker
und Ohrenbläser aus und sollte mir und, was schlimmer war, unserer Politik
im Laufe der Jahre viele Ungelegenheiten bereiten. Schiemann schrieb
damals in der „Kreuzzeitung‘‘ die wöchentliche Rundschau über auswärtige
Politik und benutzte fast jeden seiner Artikel zu einem Trompetenstoß für
mich. Diese Aufsätze sind später in Buchform erschienen. Sie stehen wohl-
geordnet in meiner Bibliothek. Sie waren schön eingebunden in prächtigem
rotem Leder, sie brauchten also nicht zu erröten, als sich Professor Schie-
mann mir gegenüber nach meinem Rücktritt aus einem eifrigen Lobredner
in einen gehässigen Gegner verwandelte.