Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

DER DRAHT MIT PETERSBURG 327 
die bis dahin noch losen und vagen Ententen und Verständi- 
gungen sich zu konkreten Bündnissen verdichten würden, 
so daß wir, zusammen mit Österreich-Ungarn, uns einer 
starken Koalition gegenüberschen könnten. Die Grundursachen 
der uns umgebenden politischen Gefahren können wir nicht beseitigen, 
ohne uns selbst aufzugeben. Sie liegen, was Deutschland angeht, in der fort- 
gesetzten Erstarkung seiner wirtschaftlichen Kraft seit Gründung des 
Reichs. Es ist die — natürlich nicht berechtigte — Furcht vor einem 
etwaigen Mißbrauch der wirtschaftlichen und damit auch politischen Macht 
Deutschlands und seines nächsten Bundesgenossen, die andere Staaten 
zu Ententen gegen uns treibt. Diese Ententen und Allianzen sind ihrem 
Ursprung nach eher defensiven Charakters. Man würde aber vielleicht nicht 
zögern, auch aggressiv gegen uns vorzugehen und uns womöglich niederzu- 
zwingen, wenn man sich dazu die Macht zutraute. In gleicher Weise wie 
wir wird durch die neue Konstellation auch unser österreichisch-ungarischer 
Bundesgenosse bedroht, zumal bei ihm in den gegen den Bestand und die 
Zukunft der habsburgischen Monarchie gerichteten Leidenschaften und 
Umtrieben dritte Nationen gewisse Chancen für das Einsetzen einer von 
außen kommenden Zerstörungsarbeit zu erblicken scheinen. Ist ja doch der 
angeblich nahe bevorstehende Zerfall der Doppelmonarchie ein ständiges 
und beliebtes Thema in der französischen und sonstigen auswärtigen Presse. 
Auch ist Österreich-Ungarn infolge seiner großen Interessen auf der Balkan- 
halbinsel dort mehr als wir der Gefahr von Konflikten mit den Entente- 
mächten ausgesetzt. Das Vorstehende ergänzend, möchte ich zur Charakte- 
ristik unserer allgemeinen Beziehungen zu den Nachbarstaaten, einerseits 
zu Rußland, England und Frankreich, andererseits zu den Dreibund- 
mächten, folgendes bemerken: Rußland ist infolge des Japanischen Krieges 
noch für längere Zeit wenig aktionsfähig. Seine Regierung sucht im Hin- 
blick auf ihre besonders in Asien geschwächte und gefährdete Position mit 
dem bisherigen Gegner, England, zu paktieren, zugleich aber an der tradi- 
tionellen Freundschaft mit uns festzuhalten. Wir unsererseits haben 
auch ferner Interesse daran, den alten Draht mit St. Peters- 
burg nicht zu durchschneiden. England, bedrückt von — unbegrün- 
deter — Furcht vor dem vermeintlich drohenden deutschen Übergewicht 
in wirtschaftlicher wie in militärischer Beziehung, sucht dagegen wenn 
auch noch nicht Allianzen so doch Freundschaften, immer von seiner her- 
gebrachten Politik geleitet, andere für sich ins Feuer zu schicken. Uns bleibt 
demgegenüber nur übrig, unsere bisherige Politik der Geduld und Vor- 
sicht fortzusetzen und uns zu bemühen, unbegründete Befürchtungen 
nach Möglichkeit zu zerstreuen. Frankreich geht militärisch wie an Volks- 
kraft eher zurück, es schwebt in ständiger Besorgnis vor einem Konflikt
	        
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