„SORGSAM ZU PRÜFEN“ 339
Zweifel unterliegen, und ich beuge mich in Ehrfurcht vor dieser Leistung
des Herrn Reichskanzlers auf einem Gebiete, auf welchem mir die Befähi-
gung zu einem Urteil nicht wohl bestritten werden kann. Ein hohes Alter
hat auch seine Privilegien, und wenn man achtzig Jahre alt ist, darf man
mancherlei sagen, was man vorher für sich behalten mußte.“ Auch der
langjährige Kenner der kaiserlichen Psyche war nicht bis auf den Grund
ihrer Unberechenbarkeit gelangt. Während er mir über die von mir damals
in elfjäbriger Arbeit erzielten pädagogischen Erfolge so freundliche Kom-
plimente machte, lag auf meinem Schreibtisch das kleine Paket, dessen
Inhalt mehr als alles bisher Dagewesene die Gedankensprünge, die Vergeß-
lichkeit und die ganze, mit übertriebenem Betätigungsdrang so seltsam
verbundene politische Unvernunft Kaiser Wilhelms II. enthüllen sollte.
Völlig abnungslos, was das Schriftstück enthielt, und bei meiner damaligen
Überlastung mit dringenden Fragen der Politik nicht in der Lage, das
Elaborat selbst zu lesen, ließ ich den Brief des Gesandten von Jenisch mit
Anlage dem Auswärtigen Amt mit nachstehender eigenhändiger und
bestimmter Weisung zugehen: „Ich bitte, den Artikel sorgsam prüfen,
den Artikel sodann auf gebrochenem Bogen mit Kanzleihand (oder noch
besser mit Schreibmaschine) abschreiben und wünschenswerte Korrek-
turen, Zusätze und Weglassungen (mit derselben Handschrift) am
Rand eintragen zu lassen. Ferner soll eine Abschrift mit dem verän-
derten Text zurückbehalten werden für Seine Majestät. Ich bitte um
strengste Geheimhaltung und möglichste Beschleunigung der Über-
sendung an mich.“
Die beiden Worte „sorgsam“ und „Weglassungen‘“ hatte ich dick
unterstrichen.
Nach einigen Tagen gelangte die Piece von seiten des Auswärtigen
Amts wieder an mich zurück, mit der Meldung, daß sich nur einige gering-
fügige und unerhebliche Korrekturen empföhlen, die sich auf den Namen des
nach Fez entsandten deutschen Konsularbeamten und einige ähnliche
Quisquilien bezogen. Ich übergab das Aktenstück noch einmal dem mich
als Vertreter des Auswärtigen Amts begleitenden Gesandten von Müller
mit der ausdrücklichen Weisung, die ganze Angelegenheit nochmals
gründlich zu prüfen, da mir selbst hierfür in diesen bewegten Tagen die
erforderliche Zeit nicht zu Gebote stünde. Als mir Herr von Müller am
nächsten Tage die Pitce zurückreichte, frug ich wiederum und mit Nach-
druck, ob die Publikation des Artikels auch wirklich ganz unbedenklich
wäre. Der Gesandte von Müller bejahte mit Emphase meine Trage,
und ich ermächtigte ihn, die Anfrage aus Rominten zu beantworten.
Ich ahnte nicht, daß diese Sendung aus dem kaiserlichen Jagdlager
eine Dynamitbombe war, deren Explosion nicht lange nachher die
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