Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

Ein Aiten- 
täter in 
Norderney 
340 EIN MYSTERIÖSER VORFALL 
schwierigste innere Krise hervorrufen sollte, der ich während meiner 
Amtszeit zu begegnen hatte. 
Bevor ich zu dieser Krise gelange, will ich noch eines Zwischenfalles 
Erwähnung tun, der sich im Herbst in Norderney abgespielt hatte, der 
schönen friesischen Insel, die ich erst nach meinem Rücktritt wiedersehen 
sollte. Ich pflegte nach dem Abendessen mit meiner F'rau einen Spaziergang 
am Strande zu unternehmen, wo wir um diese Stunde kaum noch Menschen 
begegneten. Meine Frau glaubte zu bemerken, daß ein ihr unbekannter 
Mann uns folgte, und in ihrer rührender Fürsorge für mich wollte sie, um 
mich zu schützen, zwischen dem Mann und mir gehen, was uns Anlaß zu 
Neckereien bot. Ich hatte den kleinen Vorfall schon längst vergessen, als 
ich nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin, das ich von Zeit zu Zeit für 
mündliche Rücksprachen und Vorträge regelmäßig aufsuchte, wieder nach 
Norderney zurückgekehrt war. Am Morgen nach meiner Rückkehr meldete 
mir die Polizeibehörde, daß man am Strande die Leiche eines Mannes 
gefunden habe und bei ihm den nachstehenden, auf schmutzigem Papier 
mit Bleistift geschriebenen Brief: „An die Polizei! Sollten Sie mich ster- 
bend finden, so lassen Sie mich ruhig sterben. Ich war des Lebens satt, von 
dem ich nichts mehr zu hoffen hatte. Ich bedaure mein Opfer sehr, aber 
ich konnte nicht anders. Ich mußte mich rächen an irgendeinem schönen 
Weibe, welches ich gern lieben möchte. Es ist aber schon zu spät, da ich 
ohne Mittel bin und keinen anderen Ausweg mehr finde. So sterbe ich mit 
dem Bewußtsein, meine Schuldigkeit getan zu haben. Ich hatte mir eigent- 
lich ein anderes Opfer auserlesen, und zwar den bekannten Wahlrechtsfeind, 
den Fürsten Bülow, welcher das arbeitende Volk bei jeder Gelegenheit 
verhöhnt und beleidigt bat. Nun reichen ja meine Mittel nicht mehr aus, 
um den Fürsten Bülow von Berlin kommend zu erwarten, sonst wäre ihm 
eine Kugel sicher gewesen: dies ist der Grund, welchen ich anfangs erwähnte, 
zu meiner schrecklichen Tat. (Gez.) D. Braun.‘ Weitere polizeiliche Nach- 
forschungen ergaben, daß der Attentäter aus Stuttgart kam und sich dort 
als eifriger Sozialdemokrat geriert und betätigt hatte. In der kleinen Nor- 
derneyer Wirtschaft, wo er abgestiegen war, hatte er sich wiederholt nach 
meinen Gewohnheiten und besonders nach der Art und der Stunde meiner 
Spaziergänge erkundigt. Er hatte geklagt, daß er obne Subsistenzmittel 
sei. Er habe sogar seinen Mantel versetzen müssen, was für ihn als 
Brustkranken bei den stürmischen Winden von Norderney unerträglich 
sei. Der Genosse Braun war in der Tat tuberkulös, was durch die Sektion 
der Leiche festgestellt wurde. Auf seine Erkundigungen war ihm von seinen 
Wirtsleuten gesagt worden, der Reichskanzler sei nach Berlin gefahren, 
und es hieße, daß er nicht so bald nach Norderney zurückkehren würde. 
Die Auskunft war von den Wirtsleuten ohne jede Absicht noch Hinter-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.