WILHELM II. FÜR TOTALEN KURSWECHSEL 341
gedanken erteilt worden. Daraufhin hatte der Bursche nachts in einer
menschenleeren Straße auf eine ihm völlig unbekannte Dame geschossen,
sie nicht unerheblich am Kinn verwundet, dann aber sich selbst durch
einen wohlgezielten Schuß ins Ohr getötet. Die betreffende Dame, die
unbescholtene Gattin eines angesehenen Bremer Kaufmanns, bat dringend,
daß ihr Name nicht der Öffentlichkeit preisgegeben werden möge, da sie
dadurch Klatschereien und Verleumdungen ausgesetzt sein würde. Ich
trug diesem Ersuchen um so lieber Rechnung, als es mir ohnehin wider-
strebte, von dem ganzen Vorfall Aufheben zu machen. Persönliche Furcht
habe ich nie gekannt. Von Jugend auf war ich von der Wahrheit der herr-
lichen Worte durchdrungen, die bei Shakespeare auf dem Forum Romanum
Julius Cäsar zu Calpurnia spricht:
Von allen Wundern, die ich je gehört,
Scheint mir das größte, daß sich Menschen fürchten,
Da sie doch sehn, der Tod, das Schicksal aller,
Kommt, wann er kommen soll.
So blieb der ganze Vorfall der Öffentlichkeit verborgen. Als ein Jahr
vorher galizische Polen in Norderney verhaftet wurden, die zugaben, daß sie
mit der Absicht gekommen waren, einen Schießversuch auf mich zu unter-
nehmen, habe ich gleichfalls Weisung gegeben, keinen Lärm zu schlagen,
sondern die Lumpen stillschweigend über die Grenze abzuschieben.
Nach Berlin zurückgekchrt, fand ich den Kaiser wegen der Vorgänge
auf der Balkanhalbinsel in der von mir erwarteten hohen Erregung. Was
ihn am meisten wurmte, war die den Türken widerfahrene Kränkung, die
auch nach dem Sturz seines Spezialfreundes, des Sultans Abdul Hamid,
und sogar nach der Proklamierung einer demokratisch-parlamentarischen
Verfassung in Konstantinopel seine Lieblinge geblieben waren. Es ärgerte
ihn auch, daß der ihm persönlich unsympathische König Ferdinand von Bul-
garien sich erkühnt hatte, ohne vorherige Rückfrage bei ihm sich das
Prädikat Majestät anzumaßen.
In stürmischem Redefluß machte mir der Kaiser bei einem langen
Spaziergang im Garten des Reichskanzlerpalais, wo so manche Diskussion
zwischen ihm und mir stattgefunden hatte, den Vorschlag eines totalen
Kurswechsels. Wir müßten in Wien die sofortige Zurücknahme der An-
nexions-Proklamation des Kaisers Franz Josef und den gleichzeitigen
Rücktritt des Ministers Aehrenthal verlangen. Dem dreisten Bulgaren
dürfe die Anerkennung der von ihm usurpierten Majestät nun und nimmer
gewährt werden. Ich erwiderte, daß ich die österreichische Allianz nie
überschätzt hätte und auch jetzt nicht überschätze. Ich wisse auch,
daß Fürst Ferdinand ein vielgewandter Odysseus sei. Aber darum
Der Kaiser
im Reichs-
kanzler-
Palais