Thronrede im
Preußischen
Landtag
342 DER WEICHENSTELLER
brauchten wir Österreich-Ungarn noch nicht mit einem Fußtritt direkt in
das Lager unserer Feinde zu treiben — und die Bulgaren auch nicht. Wir
dürften dies um so weniger, als die habsburgische Monarchie in der bos-
nischen Frage nicht nur das Vertragsrecht für sich habe, sondern auch in
dem im Juni von Iswolski an Aehrenthal gerichteten Schreiben für alle
Fälle eine sehr starke diplomatische Waffe besitze. Zum Krieg würde ich es
ganz gewiß nicht kommen lassen. Ich wäre nicht gewillt, den Österreichern
ein militärisches Vorgehen gegen Serbien oder gar gegen Rußland, natürlich
auch nicht gegen Italien, zu erlauben. Ich würde Österreich nicht preisgeben,
mich aber noch weniger von Österreich in einen europäischen Krieg hinein-
ziehen lassen. Der Kaiser könne sich auf mich als Weichensteller verlassen.
Ich traute mir das Geschick und die Kraft zu, die Weiche so zu stellen, daß
der österreichische und der russische Zug nicht karambolieren würden. Das
große Vorbild, nach dem wir uns zu richten hätten, sei die Bismarcksche
Taktik während früherer Balkankrisen. Das Problem liege so: Wir dürften
Österreich-Ungarn mit seinen fünfzig Millionen Einwohnern, seiner starken
und braven Armee nicht verlieren, uns aber auch nicht von Österreich in
kriegerische Konflikte hineinziehen lassen, die sich nach meiner Überzeu-
gung schwer lokalisieren lassen würden und zu einem allgemeinen Krieg
führen könnten, an dem wir gar kein Interesse hätten. Ich könne mir nicht
im voraus die kaiserliche Erlaubois für jeden Schachzug erbitten, den ich
zu tun gedächte. Ich könne Seiner Majestät nicht einmal sagen, wie ich im
einzelnen zu operieren beabsichtige. Aber ich glaubte bestimmt, daß wir gut
durchkommen würden. Wir würden nach meiner Meinung mit verstärktem
Ansehen aus dieser diplomatischen Kampagne hervorgehen.
Mein Einfluß auf Wilhelm II. war damals noch so stark, daß ich ihn
nach einer anderthalbstündigen Unterredung völlig umgedreht hatte. Er
überließ die weitere Behandlung der bosnischen Krise vertrauensvoll
meiner Einsicht. Er genehmigte sogar an demselben Vormittag den ihm von
mir vorgetragenen Entwurf der Thronrede, mit der am 20. Oktober der
Landtag der preußischen Monarchie eröffnet werden sollte und deren Ein-
gang ich wie folgt gefaßt hatte: „Ein Jahrhundert ist verronnen, seit Mein
in Gott ruhender Vorfahr weiland König Friedrich Wilhelm III. durch
Erlaß der Städteordnung die Bürger Preußens zur Teilnahme an der Ver-
waltung des städtischen Gemeinwesens berief. Mit dem Erlaß der Ver-
fassung ist die Nation in die Mitarbeit auch an den Geschäften des Staats
eingetreten. Es ist Mein Wille, daß die auf ihrer Grundlage erlassenen Vor-
schriften über das Wahlrecht zum Hause der Abgeordneten eine organische
Fortentwicklung erfahren, welche der wirtschaftlichen Entwicklung, der
Ausbreitung der Bildung und des politischen Verständnisses sowie der
Erstarkung staatlichen Verantwortungsgefühls entspricht. Ich erblicke