STAATSKANZLER, NICHT HOFKANZLER 363
Am Abend dieses Tages fand ein Diner bei mir statt, zu dem ich alle
im Auswärtigen Ausschuß vertretenen Bundesratsmitglieder mit den
preußischen Staatsministern eingeladen hatte. Die würdigen Herren waren
derartig erregt, daß sie nicht nur mir, sondern auch meiner schr unpoliti-
schen Frau heftig zusetzten, wobei sich namentlich der Staatssekretär des
Innern, Herr von Bethmann Hollweg, durch seinen Eifer hervortat. Mit
dem ihm eigenen feierlichen Pathos rief er meiner Frau zu: „Sie müssen
Ihrem Herrn Gemahl, dem von mir so hochverehrten Fürsten, immer wieder
sagen, daß er nicht Hofkanzler, sondern Staatskanzler ist.“ Derselbe
Bethmann hat später nie den Mut gefunden, meine Haltung in den No-
vembertagen gegenüber dem Kaiser zu rechtfertigen oder auch nur zu
verteidigen.
Besonders animos war die Stimmung im preußischen Staatsministerium.
In der von mir zusammenberufenen Sitzung erklärten alle Minister, daß es
die Pflicht des Königlichen Staatsministeriums sci, Seine Majestät
den Kaiser im Interesse, für das Wohl, ja vielleicht für die Rettung der preu-
Bischen Monarchie auf das entschiedenste vor weiteren Fehlern zu warnen,
ihm mehr Selbstbeherrschung, mehr Ernst anzuempfehlen, ihn auf das
Vorbild seiner großen Ahnen, vor allem auf das Vorbild seines
Herrn Großvaters hinzuweisen. Der Kriegsminister von Einem führte
aus, daß die Unzufriedenheit mit dem Verhalten und Gebahren des
Kaisers, mit den Auswüchsen des persönlichen Regiments, mit den kai-
serlichen Temperamentsausbrüchen und Launen auch in Offizierskreisen
mehr und mehr um sich greife. Das wirke demoralisierend, und darin
liege eine große Gefahr. Gewiß seien ehrenhafte und ruhmvolle Tra-
ditionen im Heere noch stark und lebendig. Das Offizierkorps würde
im Ernstfall zweifellos gegenüber dem Feind voll und glänzend seine Pflicht
erfüllen wie 1870, wie 1866, wie anno 13 und wie im Siebenjährigen Krieg.
Aber das Ansehen des Königs, seine Stellung gegenüber dem Ofßizierkorps
seien doch nicht mehr so fest fundiert wie früher, und das durch die Schuld
Seiner Majestät. Es habe militärisch mehr oder weniger begabte preußische
Könige gegeben, aber keinen, der sich so sehr nur in „Soldatenspielerei“,
in falschen Manöverbildern, in „albernen Kinkerlitzchen“, in reinen
Äußerlichkeiten, in der Einführung neuer Uniformen und Griffe gefallen,
der in dem ernstesten aller Ressorts, in der Armee, so sehr Schein und Wirk-
lichkeit, Schale und Kern verwechselt hätte. Der Staatssekretär von Tirpitz
sprach sich in gleichem Sinne aus. Die Marine, die Lieblingswaffe Seiner
Majestät, denke ebenso. Sie sei gewiß dankbar für das besondere Inter-
esse, das der Kaiser seiner Flotte entgegenbringe, für alles, was er für die
Flotte getan habe und noch tue. Aber es gebe wenig Marineoffiziere, die
uicht der Überzeugung wären, daß der größte Dienst, den der Kaiser wie
Sitzung des
preußischen
Staats-
ministeriums