Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

DER GANZE REICHSTAG OPPONIERT 365 
Treiben im Lande keinen guten Eindruck mache, kam der Kaiser, schnell 
von Entschluß wie er war und immer bereit und fähig, sich umzuschalten, 
auf den Einfall, der öffentlichen Meinung, wie er meinte, „ein Paroli zu 
bieten“, indem er gerade an dem Tage, an dem im Reichstag die Inter- 
pellationen über das Kaiserinterview beantwortet werden sollten, am 
10. November 1908, dem anfänglich von ihm verspotteten, dann wenig 
beachteten Grafen Zeppelin eine melodramatische Huldigung darbrachte, 
ihm den hohen Orden vom Schwarzen Adler umhängte, ihn dreimal umarmte 
und eine Rede an ihn hielt, in der er ihn, anno 1908, zum größten Deutschen 
des ganzen (eben angebrochenen) zwanzigsten Jahrhunderts proklamierte. 
Am gleichen Tage begann die Reichstagsdebatte. Die Nationalliberalen, 
die Freisinnigen, die Sozialisten, die Deutschkonservativen und die 
Reichspartei hatten Interpellationen eingebracht. In würdigen, maßvollen 
Worten eröffnete der Führer der Nationalliberalen, Ernst Bassermann, die 
Debatte. Er hob hervor, daß der Reichskanzler während seiner Amtszeit 
und insbesondere gegenüber der bedrohlichen bosnischen Krisis eine Politik 
der Sachlichkeit und Festigkeit gemacht habe, eine Politik, die allgemein 
gebilligt werde. Bassermann protestierte gegen die unvorsichtige und ge- 
fährliche Behauptung des Kaisers, daß das deutsche Volk in seiner großen 
Mehrheit nicht freundlich oder gar feindlich für England gesinnt sei. Der 
Schwerpunkt der ganzen Krisis, führte Bassermann aus, liege keineswegs 
in der Veröffentlichung, sondern in den Tatsachen: „Auch wenn diese Ge- 
spräche nicht bekannt geworden wären vor aller Welt, in England laufen 
sie von Mund zu Mund. Und wieviele andere Gespräche mögen in den 
Archiven fremder Nationen liegen!“ Am Schluß seiner Ausführungen 
protestierte Bassermann gegen die Behauptung des Kaisers, daß die 
deutsche Flotte dazu bestimmt sei, Weltpolitik im Stillen Ozean zu 
treiben. Der Reichstag müsse feierlich erklären, daß das deutsche Flotten- 
gesetz einen defensiven Charakter habe, daß die deutsche Flotte zur Ver- 
teidigung unserer Küsten, unserer Flußläufe, unserer Küstenstädte be- 
stimmt sei. Vor allem liege der großen Mehrheit des verständigen und fried- 
liebenden deutschen Volkes Feindschaft gegen England wie gegen Japan 
durchaus fern. 
Der Führer der Sozialdemokratie, Herr Singer, sprach sehr maßvoll. 
Vielleicht mit dem Hintergedanken, daß der Weizen der Sozialdemokratie 
nur um so üppiger blühen würde, je mehr das Oberhaupt des Reichs 
seinem Naturell die Zügel schießen ließe. Es mögen aber auch weniger 
parteiegoistische Motive mitgesprochen haben. Mein Freund Renvers er- 
zählte mir am Vormittag des 10. November, er sei zufällig am Abend vorher 
mit Herrn Singer in einem beiden befreundeten Hause zusammengetroffen. 
Singer habe ihm bei diesem Anlaß proprio motu gesagt, die Sozialdemo- 
Reichstags- 
debatte
	        
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