Reichstags-
debatte,
zweiter Tag
370 1908 — 1918
Veröffentlichung, die ich nicht verhindert hätte, sondern wegen des
Inhalts. Er nehme auch an, daß, als ich Seiner Majestät die Zusiche-
rung gegeben habe, die Geschäfte weiterzuführen, ich ganz bestimmte
Garantien gefordert hätte. Das deutsche Volk habe ein Recht, zu ver-
langen, daß es dem Reichskanzler in Zukunft beschieden sein möge,
ähnlichen Vorkommnissen vorzubeugen. Am Schluß der Sitzung sprach
der Antisemit Liebermann von Sonnenberg, roh und plump, weit
ausfallender gegen den Kaiser als Singer oder gar als Hertling und Wiemer.
Als ich vom Reichstag zu Fuß durch den Tiergarten nach Hause ging,
begegnete ich Ernst Bassermann. Er drückte mir die Hand mit den Worten:
„Heute haben Sie ein politisches und oratorisches Meisterstück geleistet.“
Nachdenklich fügte er hinzu: „Aber wie wird’s zwischen Ihnen und dem
Kaiser?‘ Als ich entgegnete, ich hoffte und glaubte, Seine Majestät der
Kaiser werde die Staatsräson und das Wohl des Reichs über kleinliche
persönliche Regungen setzen, meinte Bassermann: „Ja, wenn er wäre wie
sein Vater und wie sein Großvater. Aber er ist gar so eitel!“
Bassermann hat recht behalten. In den ersten Tagen nach der November-
debatte von 1908 und auch zeitweise während des folgenden Winters siegte
in Wilhelm II. die bessere Stimme. Aber schließlich behielten — wie ich
zur Entschuldigung Seiner Majestät ausdrücklich hervorheben möchte,
unter dem Einfluß selbstsüchtiger Ohrenbläser — die gekränkte Eitelkeit,
der verletzte Hochmut die Oberhand. Und das Verhängnis ging seinen Weg.
Zehn Jahre nachdem ich diese Rede für den Kaiser hielt und im Deutschen
Reichstag für Wilhelm II. in die Bresche getreten war, im November 1918
überschritt bei grauem, düsterem Himmel und strömendem Regen Kaiser
Wilhelm II. als Flüchtling die holländische Grenze.
Am 11. November 1908 wurde im Reichstag die am vorhergegangenen
Tage begonnene Debatte fortgesetzt. Miquel, ein gründlicher Kenner des
deutschen Parlamentarismus, sagte mir einmal, die Kunst der Rede sei
in Deutschland so wenig entwickelt und gepflegt, politische Begabung sei
so selten, unser politisches Temperament so matt, daß jede parlamentarische
Diskussion am zweiten Tage zu versanden pflege. In der Debatte vom
11. November 1908 gab zunächst im Namen der Konservativen der Ab-
geordnete von Normann die Erklärung ab: „Wir erachten die gestrige Ant-
wort des Reichskanzlers für eine der Gesamtsituation entsprechende und
dürfen nur die Erwartung aussprechen, daß der Herr Reichskanzler den
Worten auch diejenige Ausführung geben wird, welche das Wohl des Vater-
landes erfordert.“ Herr von Normann war ein Mann, der seiner Partei wie
dem Reichstag zur Zierde gereichte. Er war aus den roten Husaren, den
Zietenhusaren, hervorgegangen und hatte als Ordonnanzoffizier des Prinzen
Friedrich Karl am Vorabend der Schlacht bei Königgrätz auf einem