AUDIENZ IN POTSDAM 377
Mitglied des Ministeriums für öffentliche Arbeiten, Mr. Harcourt, gegen den
„halb feigen, halb chauvinistischen“ Lärm der englischen gelben Presse
protestiert. Er erklärte: „Innerhalb der letzten zehn oder fünfzehn Jahre
hat es keine Zeit gegeben, und ich spreche mit Wissen und Bewußtsein der
vollen Verantwortlichkeit, in welcher unsere Beziehungen zu Deutschland
auf festerem und freundschaftlicherem Fuße gewesen sind als heute.
Wenn in beiden Ländern eine kleine Schicht von Publizisten vorhanden ist,
die infolge selbstsüchtiger, unpatriotischer Absichten kriegerische Wünsche
hegen, so sind sie Straßenräuber der Politik und Feinde des Menschen-
geschlechts. Halten Sie den Kopf kühl, die Flotte bereit und die Zunge
höflich, und Sie brauchen das Gekläff dieser Pariahunde nicht zu fürchten,
welche die Hütte beschmutzen, in der sie wohnen.“ Ich hatte dieses Ent-
gegenkommen benutzt, um meinerseits im September 1908 in einer vom
„Standard“ wiedergegebenen Unterredung mit dem friedlich und deutsch-
freundlich gesinnten englischen Schriftsteller Sidney Whitman, der in
Deutschland im Vitztumgymnasium zu Dresden erzogen worden war und
dem Fürsten Bismarck wiederholt als Sprachrohr gedient hatte, das
deutsch -englische Verhältnis freimütig, aber natürlich mit gebotenem
Takt, in einer Tonart zu besprechen, die in England günstig aufgenommen
worden war.
Als Wilhelm II. im November 1908 endlich wieder in Potsdam einge-
troffen war, erbat ich eine Audienz, die mir der Kaiser am 17. November
im Neuen Palais bewilligte. Seit unserer langen Unterredung vom 31. Ok-
tober hatte ich direkt nur zwei Lebenszeichen von ihm erhalten. Durch den
Gesandten von Jenisch ließ er mir telegraphieren, es würde bei Besprechung
der „Daily-Telegraph“-Angelegenheit viel zu wenig Gewicht darauf gelegt,
daß der Wunsch der Veröffentlichung nicht von uns, sondern von eng-
lischer Seite ausgegangen wäre und daß in England die Meinung vorge-
herrscht hätte, die Veröffentlichung würde den Interessen der deutsch-
englischen Beziehungen dienen. Am Vorabend der Reichstagsdebatte
telegraphierte mir Seine Majestät in englischer Sprache, ich möge nicht ver-
gessen, daß auch hinter der schwärzesten Wolke ein silberner Sonnenstrahl
verborgen wäre. Am 17. November 1908 traf ich den Kaiser auf der Ter-
rasse vor dem Neuen Palais. Die Kaiserin stand neben ihrem hohen Gemahl.
Sie ging mir rasch einige Schritte entgegen und sagte mir leise: „Seien Sie
recht gut zum Kaiser, recht milde. Er ist ganz gebrochen.“ Dann forderte
mich der Kaiser auf, ihn in sein Arbeitszimmer zu begleiten. Dort ange-
langt, setzten wir uns. Der Kaiser sah in der Tat recht niedergeschlagen aus.
Er war namentlich sehr blaß. Er erwartete offenbar von mir eine große
Strafpredigt. Es wäre geschmacklos gewesen, ihm in diesem Augenblick
eine solche zu halten. Ich begnügte mich, zu bemerken, daß wir alle Punkte,
Bülow bei
Wilhelm II.