Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

378 DIE VERWUNDBARSTE STELLE 
alle Fragen, die jetzt den Gegenstand leidenschaftlicher Beschwerden und 
Klagen bildeten, ja schon oft besprochen hätten. Der Kaiser erwiderte mit 
natürlichem und offenem Ausdruck: „Gewiß, Sie haben mir das alles vor- 
ausgesagt.“ Dann frug er zögernd und mit sichtlicher Besorgnis: „Aber was 
nun? Was wird? Kommen wir durch ?“ Ich erwiderte, daß ich daran nicht 
zweifle, wenn Seine Majestät sich nur entschlösse, künftig größere Vorsicht 
und Zurückhaltung zu beobachten. Das gelte namentlich für das Feld der 
auswärtigen Politik: die „Hunnenrede“ und die „Dreizackrede‘‘ wären 
bedenklicher gewesen als das natürlich auch nicht löbliche Swinemünder 
Telegramm oder die Schwarzseher-Rede. Der Scherz mit dem „Admiral of 
the Atlantic“ und der direkte Brief an Lord Tweedmouth hätten mehr ge- 
schadet als gelegentliche Boutaden unter Landsleuten. 
Der Kaiser nickte zustimmend. Er wolle, äußerte er, „ganz gewiß‘ sich 
von jetzt an mehr in acht nehmen. Er wolle es auch vermeiden, die Leute 
vor den Kopf zu stoßen. „Worüber haben sich denn die Menschen so ge- 
ärgert?“ Ich erwiderte, daß die unbestreitbare Verärgerung nicht auf poli- 
tische Momente zurückzuführen wäre. Ich wies auf sein allzu absprechendes, 
allzu heftiges Auftreten gegenüber der modernen Richtung in Kunst und 
Literatur hin. Gerade in diesem Punkte sei der Deutsche gar empfindlich 
und lasse sich nicht von oben in diese oder jene Richtung stoßen. Hier 
protestierte der Kaiser zum erstenmal. Gegen Liebermann und Haupt- 
mann Stellung zu nehmen, halte er nicht nur für sein Recht, sondern für 
seine Pflicht, denn solche Menschen vergifteten die Seele des deutschen 
Volkes. Ich entgegnete, daß Max Liebermann doch einige recht schöne 
Bilder gemalt und Gerhart Hauptmann, Denker und Dichter in einer Per- 
son, manches tiefe und ergreifende Stück von bleibendem Wert auf die 
Bretter gebracht hätte, welche die Welt bedeuteten. Gegen Talent und 
Genie zu kämpfen sei immer mißlich. Jedenfalls würde der Kaiser in diesem 
Streit unterliegen, wenn er Liebermann nur Knackfuß und Hauptmann 
nur den Major Lauff entgegenzuhalten habe. Die „Netzflickerinnen‘“ und 
das „Altmännerhaus“ von Liebermann würden immer Bewunderer finden, 
„Hannele“ und „Die versunkene Glocke“, „Die Weber“ und „Florian 
Geyer“ Hauptmanns noch lange Herzen rühren und bewegen. Ich sagte das 
ohne Schärfe, im leichten Gesprächston, unter Bezugnahme auf frühere 
Unterredungen mit Seiner Majestät über dieses Thema. Ich fühlte aber 
sogleich, daß merkwürdigerweise hier die verwundbarste Stelle war, und 
lenkte die Konversation auf die für mich ja auch erheblich wichtigeren 
Fragen der Politik. 
Ich wies in langem Vortrag auf die Schwierigkeiten hin, die in dem bevor- 
stehenden Winter zu überwinden wären. Innerpolitisch stehe die große 
Reichsfinanzreform im Vordergrunde, deren Erledigung eine absolute Not-
	        
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