AKKOLADE 381
Als ich in das Arbeitszimmer eingetreten war, das neben dem Sterbe-
zimmer des Kaisers Friedrich lag und dessen Tür mit einer hübschen
Melodie auf und zu ging, hatte der Kaiser mir mit einem starken Hände-
druck gesagt: „Helfen Sie mir! Retten Sie mich!“ Bevor ich das Zimmer
verließ, umarmte und küßte er mich auf beide Wangen, was er nur zweimal
getan hat, diesmal und als er mir 1901 bei meiner Investitur mit dem hohen
Orden vom Schwarzen Adler die übliche Akkolade erteilte. Während ich
mich unter der Tür verbeugte, wiederholte der Kaiser zweimal: „Ich danke
Ihnen! Ich danke Ihnen von Herzen!“ Als ich bei meiner Rückkehr aus
dem Neuen Palais wieder im Reichskanzlerpalais eintraf, sagte ich zu meiner
Frau, die mir in einem oft stürmischen Leben mit immer gleicher Treue und
Liebe zur Seite gestanden hat: „Den Kaiser und die Krone habe ich noch
einmal durchgebracht. Wie lange wir in diesem Hause bleiben, das ist eine
andere Frage.“
Achtundvierzig Stunden später begann im Reichstag die Beratung der
Reichsfinanzreform. Ich eröffnete sie mit einer Rede, die über zwei
Stunden dauerte*.
Ich sprach, wie immer, ganz frei. Ich hatte mich monatelang mit
den einschlägigen Fragen beschäftigt, sie im Kopfe hin und her gewälzt.
Ich habe gelegentlich sagen hören, ich wäre bei der Reichsfinanzreform zu
Fall gekommen, weil ich nach meinem ganzen Lebensgang diese Materie
nicht genügend beherrscht hätte. Selbst gute Freunde haben mir gegenüber
gelegentlich gemeint, daß meine persönliche Gleichgültigkeit in Geld- und
Finanzfragen bei meiner Behandlung der Reichsfinanzreform einen nach-
teiligen Einfluß ausgeübt hätte. Diese Auffassung trifft nicht zu. Auch bei
der Vorbereitung wie bei der parlamentarischen Behandlung und Ver-
tretung des Zolltarifs war ich weit davon entfernt, jedes Detail zu kennen.
Ich habe schon einmal gesagt, daß es sich für einen leitenden Staatsmann
gar nicht empfiehlt, in den Einzelheiten aufzugehen. „Le detail est une
vermine qui ronge les grandes choses.““ Ich wiederhole: Es ist nicht
unerläßlich, daß ein leitender Mann jeden Baum im Walde kenne. Aber
er soll und muß den Fehler vermeiden, den Wald vor Bäumen nicht
zu sehen. Und aus Gründen, die unseren Fehlern wie unseren Vorzügen
entspringen, verfällt der Deutsche leicht in den letzteren Febler. Ich
hätte die Reichsfinanzreform geradeso gut durchgebracht wie Zolltarif
und Handelsverträge, wenn 1908/1909 die Konservativen eine so ver-
ständige Haltung eingenommen hätten wie acht Jahre früher bei der
Tarifaktion und den Handelsverträgen und wenn der Kaiser fest hinter
mir gestanden hätte.
* Fürst Bülows Reden, Große Ausgabe III, 141ff.; Reclam-Ausgabe V, 89.
Rede zur
Reichsfinanz-
reform