DER KAISER NICHT FÜR RATHENAU 385
mit dem bisherigen Reichsschatzsekretär Stengel nicht zu lösen war. Er
war ein gewissenhafter, vorzüglicher Beamter, aber als langjähriger
bayrischer Bevollmächtigter zum Bundesrat mit dem bisherigen System
zu eng verknüpft, um als scharfer Besen verwertet werden zu können.
Auch stand er der Zentrumspartei nahe, die wünschte, mich anläßlich der
Finanzreform und durch die Finanzreform zu Fall zu bringen.
Als Nachfolger dachte ich zunächst an Walter Rathenau, der viel in
meinem Hause verkehrte und mir wiederholt Beweise großer und feuriger
Verehrung für mich gegeben hatte. Am Abend des 17. November übersandte
er mir cin prächtiges Blumenarrangement mit seiner Visitenkarte, auf der
stand: „Dem Retter des Vaterlands sein allezeit getreuer Walter Rathenau.“
Ich glaube noch heute, daß er sich zum Reichsschatzsekretär wohl geeignet
haben würde, besser als später zum Minister des Äußern. Bei Kaiser Wil-
helm war er woblgelitten. Ich habe schon gelegentlich erwähnt, daß dem
Kaiser konfessionelle Voreingenommenheit und Rassenvorurteile, ins-
besondere auch jeder Antisemitismus völlig fernlagen. Er meinte aber,
daß die Ernennung eines Israeliten für dieses im damaligen Moment
besonders wichtige Amt des Reichsschatzsekretärs die Rechte zu schr ver-
stimmen würde, die ohnehin gerade in Steuerfragen schwer bei der Stange
zu halten war. Aus diesem Grunde lehnte er auch den sehr klugen Bankier
Carl Fürstenberg ab und selbst seinen Liebling Albert Ballin. Ich bin
übrigens nicht sicher, ob die beiden letztgenannten, vorher und nachher
von mir sehr geschätzten Herren meinem Rufe gefolgt wären, wenn ich
einen solchen an sie gerichtet hätte. Ich wendete mich dann an einen
anderen hervorragenden Bankier, Herrn Waldemar Müller von der
Dresdner Bank. Er lehnte ab, da er gerade in diesem Augenblick nicht aus
der Bank ausscheiden könne, deren Hauptdirektion kurz vorher zwei ihrer
Mitglieder verloren habe. So mußte ich einen Beamten wählen, und meine
Wahl war auf den bisherigen Unterstaatssekretär Sydow gefallen.
Sydow war ein ehrenhafter, fleißiger und gewissenbalter Mann, den
viele der traditionellen guten Eigenschaften des preußischen Beamten
zierten, aber er besaß auch manche der Fehler, die unseren Bürokraten nun
einmal anhaften. Er war steif, er war starr, er übersah über kleinen Er-
wägungen oft die große Linie, er war unbeholfen, er war zu gründlich. Er
hatte nicht über das tiefsinnige Wort des französischen Dichters nach-
gedacht, das freilich gerade der brave Deutsche schwer versteht:
Glissez, heureux mortels,
n’appuyez pas.
Die Rede, mit der er sich am 19. November einführte, war offenbar in Die Kaiserin
mühseliger Arbeit am Schreibtisch entstanden, lang, streng sachlich, aber interveniert
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