Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

396 DIE EUROPÄISCHE KONFERENZ 
Meerengenfrage kein primäres Interesse. Unsere Stellungnahme zu dieser 
Frage sei abhängig von der allgemeinen Lage und der Konstellation 
zwischen den Mächten, natürlich auch von der uns von Rußland zuteil 
werdenden Behandlung. Wir würden die russische Meerengenpolitik nicht 
bekämpfen. Daß wir sie bei der heutigen Gruppierung der Mächte förderten, 
werde lswolski selbst kaum erwarten, da ja sein Verbündeter Frankreich 
weder im Sandschak noch in den Meerengen die volle Souveränität der 
Türkei beeinträchtigen wolle. „Je ne vous dis pas: lächez la France et nous 
lächerons l’Autriche, mais je vous dis: soyons, vous dans l’Entente, nous 
dans la Triple-Alliance, un El&ment de paix et de conciliation.‘“ Iswolski 
reichte mir die Hand mit den Worten: „Votre langage est non seulement 
celui d’un homme d’etat, mais aussi celui d’un ami de la Russie. J’ai pleine 
confiance en vous, et mon souverain a pour vous les mömes sentiments que 
moi.“ 
Als Iswolski mich am nächsten Tage wieder aufsuchte, war er in ruhigerer 
Stimmung als bei seinem ersten Besuch. Ich benutzte dies, um die all- 
gemeine Lage und eine Reihe von Einzelpunkten sachlich mit ihm durch- 
zusprechen. Hinsichtlich der Konferenz sagte ich ihm, ich hätte keine 
grundsätzliche Abneigung gegen den Konferenzgedanken, lehnte eine 
solche auch nicht prinzipiell ab. Als notwendige Voraussetzung für eine 
Konferenz betrachtete ich aber eine vorherige Einigung zwischen den 
Mächten über die auf der Konferenz zu behandelnden Fragen. Ein Konzert 
dürfe erst beginnen, wenn die Instrumente gestimmt wären. Iswolski irre 
sich, wenn er jeden österreichisch-ungarischen Schritt auf unser Konto 
setze. Ich machte ihn auch nicht für alles verantwortlich, was in Paris 
geschehe, dort gefördert und gehofft werde. Österreich-Ungarn sei eine 
ebenso unabhängige Großmacht wie Frankreich. Es treibe eine unabhän- 
gige Balkanpolitik. Bei einer retrospektiven Kritik des österreichisch- 
ungarischen Vorgehens käme nicht viel heraus. There is no use erying for 
spilt milk. Daß wir für Österreich-Ungarn in seiner augenblicklichen Be- 
dränguis fest und ehrlich eingetreten wären, sei für uns ein Gebot nicht nur 
der Loyalität, sondern auch der Klugheit gewesen. Für den Türken brauch- 
ten wir uns jetzt gar nicht besonders einzusetzen, da England ihn unter 
seinen besonderen Schutz genommen habe. „Les Anglais sont devenus plus 
turcs que les Turcs.“ (Iswolski nickte.) Da wir in der Türkei nach meiner 
Ansicht keine direkten politischen Interessen hätten, so wäre dort für uns 
jede Politik möglich, natürlich unter Rücksichtnahme auf unsere erheb- 
lichen wirtschaftlichen Interessen. Die Garantierung des europäischen Be- 
sitzstandes der Türkei erschiene mir als ein Gedanke, dessen Durchführung 
im Interesse aller Mächte wie des Friedens liege. Iswolski griff diese im 
Konversationston leicht hingeworfene Äußerung sofort auf. Er sei zu lange
	        
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