Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

DIE FLOTTENVERSTÄNDIGUNG 417 
solchen hingesteuert hat. Aber er fürchtete nichts mehr als freundschaft- 
liche und vertrauensvolle Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland. 
Er sah nichts lieber als Friktionen und Mißtrauen zwischen den beiden 
großen nordischen Reichen. Ich habe nie geglaubt, daß England uns an- 
greifen würde, auch nicht, als der „naval scare‘, die Angst vor einem deut- 
schen Überfall, in England schr hoch gestiegen war, auch nicht, als der 
impressionable, schr nervöse Kaiser die deutsche Flotte schon von der eng- 
lischen überfallen und vernichtet sah und Tirpitz die Jahre, die Monate 
zählte, bis die Gefahrzone durchschritten sein würde. Freilich habe ich 
auch andererseits nie daran gezweifelt, daß, wenn wir in Krieg mit Rußland 
und dadurch auch mit Frankreich gerieten und wenn wir gar früher als die 
Franzosen in Belgien einrücken sollten, England gegen uns vorgehen 
würde. Unter allen Umständen erschien es mir während des Winters 
1908,09 im Hinblick auf meinen voraussichtlich nicht mehr allzu fernen 
Rücktritt als eine meiner vornehmsten Pflichten, den Frieden mit England 
auch für die Zukunft nach Möglichkeit zu sichern. Als beste Gewähr in 
dieser Richtung erschien mir ein Abkommen mit England auf der Basis 
einer Verlangsamung unseres Flottenbautempos gegen die Zusicherung 
englischer Neutralität für den Fall, daß uns Frankreich angreifen sollte. 
Metternich hatte mir am 2. November 1908 geschrieben: „Man bereitet 
sich in England militärisch und politisch auf den Zustand vor, der nach 
englischer unerschütterlicher Auffassung mit dem Anwachsen der deutschen 
Flotte innerhalb der von uns festgesetzten Grenzen für England verbunden 
ist. Wir tun am besten, wenn wir hiermit als mit einer feststehenden, 
unabänderlichen Tatsache rechnen. Der Engländer ist ein Matter-of-fact- 
Mensch. Nach seiner Ansicht bedeutet unser Flottenprogramm, so wie es 
ist, für ihn eine Gefahr, durch deren Abwehr er, immer nach seiner An- 
sicht, zu neuen ungeheuren Anstrengungen und Ausgaben getrieben wird.“ 
Am 25. Januar 1909 schrieb mir unser Botschafter in London: „Es er- 
scheint mir immer unzweifelhafter, daß wir das politische Zugeständnis 
der Neutralität Englands auch für eine Verständigung auf dem Flotten- 
gebiete nicht erreichen werden, solange die Marokko-Frage nicht ausge- 
schaltet wird. Der Revanchegedanke ist verblaßt und wird noch mehr ver- 
schwinden, wenn nach gütlicher Beilegung des Marokko-Zwiespalts keine 
englische Hilfe mehr in Aussicht steht. Kann der marokkanische Zank- 
apfel zwischen uns und Frankreich beseitigt werden, so wird bei gleich- 
zeitiger Verlangsamung unseres Flottenbautempos eine deutsch- 
englische Detente sofort eintreten. Nach meiner festen Überzeugung wird 
aber die englische Regierung die Franzosen nicht preisgeben, solange unser 
Druck auf ihrer Marokko-Politik lastet. Je eher wir die überkommene 
Tradition von der Treulosigkeit der englischen Politik aufgeben, um so 
27 Rülow II
	        
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