Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

Bülow gegen 
Reichstags- 
wahlrecht 
für Preußen 
462 DAS PREUSSISCHE WAHLRECHT 
Ich habe nie daran gedacht, das Reichstagswahlrecht auf Preußen zu 
übertragen. Ich hatte mich darüber schon ein Jahr früher, am 26. März 
1908, ausgesprochen, und zwar nicht im Landtag, wo ich für diesen meinen 
Standpunkt einen starken Resonanzboden gefunden hätte, sondern im 
Reichstag, dessen Mehrheit, wenigstens in der Theorie, das Reichstags- 
wahlrecht in Preußen eingeführt wissen wollte*. Ich betonte mit Nachdruck, 
voller Überzeugung und Wahrhaftigkeit, daß die verbündeten Regierungen 
an keine Änderung des bestehenden Reichstagswahlrechts dächten. Ich 
entwickelte aber auch die Gründe, aus denen im Reich ein Wahlrecht auf 
breitester Basis gerechtfertigt sei, in Preußen eine gewisse Abstufung des 
Wahlrechts nicht unbillig. Ich machte kein Hehl daraus, daß auch das 
direkte, allgemeine und geheime Wahlrecht kein Dogma sei, kein Götze 
und kein Fetisch. Ich sei kein Fetischanbeter, treibe keinen Götzen- 
dienst, und an Dogmen glaube ich in der Politik überhaupt nicht. Es gebe 
gar kein für alle Länder und für alle Verhältnisse passendes, absolut gutes 
Wahlrecht. Den Abgeordneten Friedrich Naumann, der mit besonderem 
Eifer die Übertragung des Reichstagswahlrechts auf Preußen verlangt 
hatte, erinnerte ich daran, daß weder in England noch in Italien noch in 
Belgien das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht bestände. Unter 
großer Heiterkeit aller Parteien frug ich Naumann, ob er wirklich glaube, 
daß das von ihm wegen seiner patriarchalischen Verfassungszustände so 
sehr perhorreszierte Mecklenburg schlechter regiert würde als Haiti. Haiti 
besäße ein pikfeines Wahlrecht, das allgemeine, gleiche und direkte Wahl- 
recht. Ich erinnerte die Freisinnigen daran, daß jede radikale Änderung des 
preußischen Wahlrechts mit zwingender Notwendigkeit zu der Frage führe, 
ob dann noch das Dreiklassenwahlrecht in den Kommunen aufrechterhalten 
bleiben könne. Ich erinnerte daran, daß kein Land der Welt eine so integre, 
tüchtige, leistungsfähige städtische Verwaltung habe wie unser Land, daß 
sich unsere kommunale Verfassung unter einem überwiegend liberalen 
Regiment voll bewährt hätte. Ich sagte: „Stellen Sie sich doch nur eine 
Berliner Stadt d lung vor, die aus dem allgemeinen, 
gleichen Wahlrecht hervorgegangen wäre, und dann wünschen Sie noch, 
daß das gewiß mangelhafte Dreiklassenwahlrecht ersetzt werden soll durch 
ein System, das in mehr als einer Kommune die Herrschaft nur einer Partei 
bedeuten könnte, welche die unduldsamste von allen Parteien ist.“ Ich 
glaube dieser meiner Bemerkung vom 26. März 1908 heute die Frage hinzu- 
fügen zu können: Gibt es einen Demokraten in Deutschland, der befriedigt 
ist von der Wirkung, welche die Einführung des Reichstagswahlrechts in 
den Kommunen und speziell in Berlin für die städtische Verwaltung gebabt 
* Fürst Bülows Reden, Große Ausgabe III, 122ff.; Reclam-Ausgabe V, 54ff.
	        
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