Wilhelm II.
in der Wiener
Hofburg
472 „DER KLEINE ZWERG“
Wilhelm II. wollte 1909 ebenso stürmisch für die griechischen Aspirationen
auf Kreta eintreten, wie er zwölf Jahre früher die türkischen Rechte auf
die Insel des Minos vertreten hatte. Er bewegte sich gern in Extremen, er
mußte oft gezügelt, immer überwacht und geleitet werden. In Brindisi,
wo am 12. Mai eine Begegnung zwischen dem deutschen und dem italieni-
schen Herrscherpaar stattfand, gelang es dem Gesandten von Jenisch, der
Seine Majestät als Vertreter des Auswärtigen Amts begleitete, den italieni-
schen Minister des Äußern, Tittoni, vor der ihm angedrohten kaiserlichen
Strafpredigt zu bewahren. Herr von Jenisch konnte nicht verhindern, daß
der Kaiser, als der König mit seinem Boot bei der „Hohenzollern“ anlegte,
seiner Umgebung zurief: „Nun paßt einmal auf, wie der kleine Zwerg das
Fallreep heraufklettert.““ Ein dem Deutschen Kaiser zum Ehrendienst zuge-
teilter italienischer Offizier, der die wenig taktvolle Bemerkung mitanhören
mußte, sagte mit scharfer Betonung zu seinem neben ihm stehenden
Kameraden: „Ich verstehe Deutsch.“ Der Zwischenfall wurde nicht
weiter releviert, es wurden sogar bei dem Diner an Bord des italienischen
Kriegsschifls „Vittorio Emanuele“ korrekte Trinksprüche gewechselt. Aber
das Verhältnis zwischen den beiden Souveränen war und blieb frostig und
prekär.
Am 13. Mai traf Wilhelm II. über Pola in Wien ein, wo er einen neuen
und selbst für mich überraschenden Beweis seiner geistigen Desinvoltura,
seiner staunenswerten Unbefangenheit ablegte. Er, der bei Beginn der
bosnischen Krisis plötzlich, unvorbereitet, von einem Tage zum andern
unsere ganze Politik auf den Kopf stellen und damit Österreich-Ungarn in
die Arme der Entente treiben wollte, hielt jetzt in der Hofburg eine Rede,
die nicht nur von Begeisterung für die „erhabene Person des allverehrten
Kaisers Franz Josef“ und für „die goldenen Alt-Wiener Herzen“ überfloß,
sondern in der er auch erklärte, der Friede sei der Welt erhalten worden,
weil er, der Kaiser Wilhelm II., sich in schimmernder Wehr neben Öster-
reich gestellt habe. Der Botschafter Tschirschky nahm mit Recht an, daß
ein solcher Trompetenstoß mein Mißfallen erregen würde, und er änderte
mit freudiger Zustimmung der Österreicher den betreffenden Passus für
Wolffse Telegraphenbüro in den milderen Satz um: „Alle Welt weiß,
wie wirkungsvoll gerade in den letzten Monaten unser Bündnis dazu
beigetragen hat, ganz Europa den Frieden zu erhalten.“ Die Hul-
digungen der Stadt Wien, die eine Wiener Straße unter Bezugnahme auf
die von mir geprägte Wendung in „Nibelungenstraße‘“‘ umgetauft hatte,
taten dem Kaiser wohl. Er befahl dem Botschafter Tschirschky, über
den ihm in Wien bereiteten Empfang einen eingehenden Bericht an den
Reichskanzler zu senden, „damit der sieht, daß man hier noch etwas
von mir hält“.