BÜLOW, DER ANGEBLICHE SOZIALIST 473
Während Kaiser Wilhelm im eigentlichsten Sinne des von Bismarck
geprägten Wortes auf der Basis der Phäaken in Korfu schöne Tage ver-
lebt hatte, waren meine Aufmerksamkeit und meine Bemühungen ganz
überwiegend auf die große Forderung des Tages, die Reichsfinanzreform,
gerichtet gewesen. Die Stimmung im Lande wurde der Reform in der von
mir vorgeschlagenen Form, d. h. mit der Erbschaftssteuer, immer günstiger.
Ich bemühte mich, und nicht ohne Erfolg, diese Stimmung durch Rück-
sprachen mit einflußreichen Männern des Erwerbslebens aus allen Kreisen
und Parteien zu beleben und zu vertiefen. Ich empfing in dieser Zeit bis
zebn und zwölf Personen an einem Tage zu Einzelunterredungen. Auf wei-
tere Kreise suchte ich durch Schreiben und Telegramme zu wirken, die in
der Presse veröffentlicht wurden. Auf ein Telegramm des Abgeordneten
Bassermann, in dem er mir im Namen der Nationalliberalen Partei volles
Vertrauen und unbedingte Unterstützung zusagte, erwiderte ich: „Stärker
als die Sorge um die sich türmenden Schwierigkeiten ist in mir der feste
Glaube an des deutschen Volkes Zukunft. In dieser Zuversicht werde ich
unverzagt an dem begonnenen Reformwerk weiterarbeiten und freue mich,
dabei Ihrer Unterstützung sicher zu sein.“ Ähnliche Kundgebungen
ergingen in allen Richtungen und nach allen Teilen des Reichs.
Am 20. April hatte ich im Kongreßsaal des Reichskanzlerpalais Depu-
tationen aus Bayern, Sachsen, Baden, Württemberg und Thüringen emp-
fangen. Unter ihnen befanden sich hervorragende Männer des Wirtschafte-
lebens, Wortführer und Vertrauensmänner weiter Schichten des deutschen
Volks. In einer längeren Rede, die ich an die um mich versammelten Herren
hielt, betonte ich, daß ich in ihnen nicht Sprecher bestimmter Parteien
sähe, sondern Männer, denen das Wohl des Vaterlandes am Herzen liege
und die deshalb die Reichsfinanzreform nicht als eine Parteifrage betrach-
teten. Ich warnte vor dem Doktrinarismus und seinem Schlagwort „Wider
alle Monopole!““ Das sei eine Phrase, die ihre Bedeutung verliere im Zeit-
alter der Kartelle und Trusts. Ich mahnte die Landwirtschaft, nicht zu ver-
gessen, daß ich gerade ihre Interessen mit der größten Gewissenhaftigkeit
gefördert hätte. Ich ermahnte die Konservativen, die Stimmen aus dem
Mittelstand nicht zu überhören. Meine Ausführungen wurden von diesen
ernsten Männern mit Zustimmung aufgenommen und nach jedem Satz
durch Beifall unterbrochen. Insbesondere fand mein Standpunkt in der
Frage der Erbanfallsteuer volle Zustimmung. Mit Wehmut erinnere ich
mich heute an einen Passus in meinen damaligen Ausführungen. Ich wandte
mich in meiner Ansprache gegen den Vorwurf des Sozialismus, der mir von
Konservativen gemacht worden war, weil ich einem aus allgemeinen Wahlen
hervorgegangenen Parlament wie dem Reichstag die Erbschaftssteuer in
die Hand geben wolle. In diesem Zusammenhang sagte ich: „Solange die
Bülow
empfängt
Deputationen