Sängerfest
in Frankfurt
a.M.
476 DER KAISER FÜNFZIGJÄHRIG
verbreitete ich mich während einer guten Stunde über die Haltung der
Parteien, über die Lage im Reichstag und über meine eigene Stellung gegen-
über dieser Situation, vielleicht zu eingehend, aber möglichst klar und ohne
Umschweife. Als ich davon sprach, daß sich die politische Situation durch
die Kurzsichtigkeit und unstaatsmännische Haltung der Konservativen
bedenklich zugespitzt hätte, meinte der Kaiser, mich rasch unterbrechend,
daß er einer Auflösung des Reichstags nicht zustimmen könne. Ich er-
widerte, ich hätte die Auflösung ja gar nicht in Vorschlag gebracht, da
auch ich eine solche im Interesse des Landes und der Krone nicht für rat-
sam halte. Eine andere Frage sei, ob ich eine politische Entwicklung würde
mitmachen können und wollen, die mit der Sprengung des Blocks begonnen
habe und durch die Verwerfung der Erbschaftssteuer gekrönt werden
solle. Ich beobachtete, während ich dies entwickelte, das Mienenspiel
Seiner Majestät. Ich kannte den hohen Herrn zu genau, um nicht zu merken,
daß zwei Gefühle in ihm stritten. Erwünschte meinen Rücktritt, er wollte
mich loswerden. Aber er wollte den Augenblick meines Ausscheidens, die
Form und die Modalität meines Fortgehens selbst bestimmen.
Vier Tage später begegneten wir uns wieder auf dem Sängerfest in
Frankfurt a. M. Ich habe selten einen enthusiastischeren Empfang erlebt
als den, der Wilhelm II. bei diesem Wettstreit deutscher Männergesang-
vereine in der alten Wahl- und Krönungsstadt deutscher Kaiser bereitet
wurde, in der schönen Mainstadt, wo ich meine Kindheit verlebt hatte.
Der Jubel war unbeschreiblich. Als der herrliche Kaisermarsch von Richard
Wagner ertönte, drückte mir die Kaiserin die Hand. Sie hatte Tränen im
Auge, als sie mir sagte: „Es ist alles so gut gekommen, wie Sie es mir im
Neuen Palais voraussagten, ich danke Ihnen von Herzen.“ Sie sagte das
mit leiser Stimme und mit einem ängstlichen Blick auf den Kaiser, der in
einiger Entfernung mit lauter Stimme seiner Umgebung auseinandersetzte,
er habe recht behalten mit seiner Überzeugung, daß das deutsche Volk ihm
stets durch dick und dünn folgen würde. Das Selbstgefühl Seiner Majestät
hob sich immer mehr. Er hatte schon bald nach seinem letzten Geburtstag
in dieser Richtung ein bezeichnendes Marginal zu den Akten gegeben.
Ich hatte den Bundesfürsten vertraulich nahelegen lassen, zum fünfzigsten
Geburtstag des Kaisers, zum 27. Januar 1909, nach Berlin zu kommen.
Das Erscheinen aller deutschen Souveräne trug nicht wenig dazu bei,
den Glanz dieser Geburtstagsfeier zu erhöhen. In Vertretung seines Vaters,
des durch sein hohes Alter am Erscheinen verhinderten Prinzregenten
Luitpold, verlas Prinz Ludwig von Bayern eine sehr schöne Ansprache,
in welcher der Gedanke der Reichseinheit zu erhebendem Ausdruck ge-
langte. Während des Cercles, der nach der Galatafel in der Bildergalerie
stattfand, gaben fast alle Bundesfürsten ihren patriotischen Empfindungen