Telegrammdes
Zaren an
Bülow
502 EIN WUNSCH DES ZAREN
dem guten d’Estournelles de Constant und mir noch übriggeblieben ist.
Als der Weltkrieg ausgebrochen war und wir Frankreich den Krieg erklärt
hatten, verwandelte sich d’Estournelles, wie alle französischen Pazifisten
und wie dies jeder, der Frankreich und die Stärke des französischen Pa-
triotismus kannte, nicht anders erwarten konnte, in einen leidenschaft-
lichen Patrioten, der mit Begeisterung in den allgemeinen Kriegsruf ein-
stimmte: „Aux armes, citoyens |“
Ungefähr um dieselbe Zeit, wo mein Freund d’Estournelles de Constant
seinen schönen Vortrag in Berlin hielt, hatte ich ein direktes Telegramm
vom Kaiser Nikolaus erhalten, in dem er mir in ungewöhnlich warmen
Worten mitteilte, daß er mir als Zeichen seines Vertrauens und seines
besonderen Wohlwollens den Andreas-Orden mit Brillanten verleihe. Als
der russische Botschafter mir einige Tage später diese mit prächtigen
Diamanten verzierte Dekoration überreichte, sagte er mir vertraulich, daß
der Kaiser mit seiner Ordensverleihung noch einen besonderen Zweck ver-
folge. Er habe selbstverständlich weder das Recht noch die Absicht, sich in
innerdeutsche Verhältnisse einzumischen. Er habe aber doch zum Ausdruck
bringen wollen, wie sehr er im Interesse der guten Beziehungen zwischen
beiden Ländern und des europäischen Friedens wünsche, daß ich Reichs-
kanzler bleiben möge. Deshalb habe er mir eine so ungewöhnliche Aus-
zeichnung zuteil werden lassen. Mit einer ähnlichen Wendung hatte mir
der rumänische Gesandte um dieselbe Zeit den von König Carol von
Rumänien kurz vorher gestifteten Carols-Orden überreicht, den der mir
seit so lange freundlich gesinnte, weise Monarch mir als erstem Nicht-
Souverän verlieh.
Aus Rom hatte mir schon während des Winters mein Freund Schor-
lemer geschrieben, daß Pius X., dem er die Glückwünsche Wilhelms II.
zum Bischofsjubiläum überbracht hatte, ihm mit sichtlicher Freude von
dem Besuch gesprochen habe, den ich gemeinsam mit meiner Frau im
Frühjahr 1908 dem Heiligen Vater abgestattet hatte. Es hieß in diesem
Brief weiter: „Einen sehr angenehmen Eindruck hat mir der Kardinal
Rampolla gemacht. Er sprach sehr erfreut davon, daß es Eurer Durchlaucht
gelungen sei, die Novemberkrisis zu einem guten Abschluß zu bringen.
Auch unter den übrigen Diplomaten, die ich bei dem spanischen und öster-
reichischen Botschafter gesprochen habe, kam unverhohlen die Freude zum
Ausdruck, daß Eure Durchlaucht die Geschäfte des Reichskanzlers weiter-
führen würden.“ Im Frühjahr schrieb mir Kardinal Kopp: „Daß Eurer
Durchlaucht die Reise nach Venedig eine wirkliche Erholung und Kräfti-
gung gewesen sei, ist mein innigster Wunsch.“ Im Vatikan dauere der
günstige Eindruck fort, den mein vorjähriger Besuch dort hinterlassen
habe. Insbesondere sei Seine Heiligkeit über die Lage der katholischen