Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

Giolitti in 
Homburg 
58 GIOVANNI GIOLITTI 
der Angelegenheit auch meinen wärmsten Dank auszusprechen. Eurer Exzel- 
lenz allezeit dankbar ergebener Leopold Graf-Regent zu Lippe.‘ Alsich in 
einem der folgenden Sommer in Norderney weilte, stattete mir der 1905 zum 
Fürsten und zur „Hochfürstlichen Durchlaucht‘ avaneierte Leopold IV. 
dort einen sehr freundlichen Besuch ab. Als mein langjähriger italienischer 
Kammerdiener Augusto den hohen Herrn in einem bescheidenen Miets- 
wagen vor unserer Villa ankommen sah, meinte er erstaunt: „E questo 
si chiama in Germania un Sovrano!“ Der ganze Unterschied zwischen 
italienischer und deutscher Einheit, italienischer und deutscher Mentalität 
liegt in dieser kleinen Bemerkung. Und doch war der Lippesche Streitfall, 
der Höfe, Regierungen und Volk in Deutschland so unverhältnismäßig er- 
regte, ein Wetterleuchten, das dem Novembersturm von 1908 vorausging. 
Gerade in den Tagen, wo durch den Tod des Graf-Regenten Ernst zu 
Lippe die Erbschafts- und Regentschaftsfrage in jenem Ländchen die 
Deutschen beschäftigte, empfing ich in Homburg v. d. H. den Besuch des 
italienischen Ministerpräsidenten Giolitti, zu dem ich schon wührend des 
Kaiserbesuchs in Rom gute persönliche Beziehungen angeknüpft hatte. 
Giovanni Giolitti ist einer der bedeutendsten Staatsmänner, die das an 
politischen Köpfen nicht arme moderne Italien seit dem Risorgimento 
hervorgebracht hat. Piemontese, besitzt er die tüchtigen Eigenschaften 
seines Stammes. Er hatte schon unter Marco Minghetti im Finanzmini- 
sterium gearbeitet, war noch während dessen Ministerpräsidentschaft 
Generalinspektor des Steuerwesens geworden, später Generaldirektor des 
Rechnungshofes. Erst 1882, mit vierzig Jahren, ließ er sich zum Deputierten 
wählen. Es ist Giolitti immer zustatten gekommen, daß er als Beamter von 
der Pike auf gedient hatte und die Verwaltung in allen ihren Zweigen 
gründlich kannte. Als Abgeordneter zeigte er bald ungewöhnliche parla- 
ınentarische Vorzüge: unerschütterlichen Gleichmut gegenüber parlamen- 
tarischen Stürmen, Festigkeit, wo solche nottat, eine elastische Hand, wo 
sie sich empfahl. Wie er nie seine Ruhe verlor, so auch nicht seine gute 
Laune. Er war imstande, in den Wandelgängen der Kammer zwei Dutzend 
Deputierte nacheinander anzusprechen und sie dadurch zufriedenzustellen. 
Er war auch imstande und besaß die physische Widerstandsfähigkeit, im 
Ministerium des Innern, dem alten Palazzo Braschi, vor dem das Erz- 
denkmal von Marco Minghetti steht, die zahlreichen Bittsteller freundlich 
zu empfangen, die in Italien die Vorzimmer aller Minister füllen und die 
den heftigen Crispi, den kränklichen Rudini, den menschenscheuen 
Sonnino zur Verzweiflung brachten. In seinem Auftreten und in seinen 
Manieren ist Giolitti, wie die meisten seiner Landsleute, einfach und natür- 
lich, ohne Pose noch Prätention. Das aflektierte Wesen, das manche 
Deutsche an den Tag legen, sobald sie eine gewisse Stellung erklettert haben,
	        
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