Lektüre
12 DER ORT, GESCHICHTE ZU LESEN
auf der Höhe des Pincio, der byzantinische Feldmarschall Belisar, nicht
mit Unrecht an den tapferen Goten Totila schrieb: ‚Von allen Städten, so
viele die Sonne bescheint, ist Rom die größte und merkwürdigste.‘“ Ich
war endlich ein freier Mann und stimmte Sokrates bei, der die Muße als
das schönste Gut bezeichnet: ) 6402.) zdAk1otor zrnudtorr. Das leuchtet dem
Deutschen freilich erst allmählich ein, denn im Norden hält man, nach
Goethe, jeden für einen Müßiggänger, der sich nicht den ganzen Tag ängst-
lich abmüht. Gern ritt ich auch nach der Isola Farnese, zu jenen Feldern,
wo einst Veji stand.
Altes Veji, auch du warst einstmals Fürstenbehausung,
Wo auf offenem Markt ragte der goldene Stuhl.
Jetzt tönt zwischen den Mauern die Flöte des schweifenden Hirten,
Und dein Gräbergebiet wurde Ackergefild.
sang schon vor Christi Geburt der Elegiker Sextus Propertius angesichts
dieser schwermütigen Landschaft.
Ich fand endlich wieder Zeit zum Lesen. Während der vielen Jahre
ununterbrochener und angestrengter Tätigkeit war mir bisweilen das me-
lancholische Wort eines geistvollen Mannes, ein Wort von Ernst Dohm,
dem Vater des „Kladderadatsch“, durch den Sinn gegangen. Er lag auf
dem Sterbebett. Einem ihn besuchenden Freunde, der ihn frug, wie es
ihm ginge, erwiderte er unter Anspielung auf den Namen der Matthäi-
kirchstraße, in der er wohnte: „‚Matthäi am letzten.“ Dann: ‚Mir ist nur
leid um alle die schönen Bücher, die ich noch nicht gelesen habe.“ In Rom
las ich endlich wieder im Zusammenhang und ungestört die Römische
Geschichte von Theodor Mommsen und die acht Bände der Geschichte der
Stadt Rom im Mittelalter von Ferdinand Gregorovius, ich las zum zweiten-
mal in meinem Leben, mit einem durch meine ministeriellen Erfahrungen
geschärften Verständnis für geschichtliche Zusammenhänge wie für die Art
oder vielmehr Unart des Homo sapiens die zwölfbändigen Untersuchungen
Hippolyte Taines über die „Origines dela France contemporaine‘. Ich begriff,
wie recht mein verehrter Lehrer, Professor Adalbert Daniel, gehabt hatte,
als er dem Schüler des Pädagogiums zu Halle dreiundvierzig Jahre früher
die Goethesche Weisheit eingeprägt hatte: In Rom lese sich Geschichte
ganz anders als an irgendeinem anderen Orte der Welt; anderwärts lese
man von außen hinein, hier glaube man von innen heraus zu lesen; es lagere
sich alles um uns her und gehe wieder von uns aus. Ich las wieder Byron
und Goethe, Virgil und Horaz, Titus Livius und Sallust. Der letztere, dessen
Gärten einst an die Stätte gegrenzt hatten, wo jetzt die Villa Malta steht,
war ja gewissermaßen der Schutzpatron meines Wohnhauses. Ich hatte
übrigens gerade Sallust von Jugend auf besonders geschätzt und schon als