Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Dritter Band. Weltkrieg und Zusammenbruch. (3)

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durch unvorsichtige Gesten in dieser Richtung das russische Mißtrauen 
erwecken. Wir durften vor allem Österreich kein Vorgehen auf der 
Balkanhalbinsel erlauben, das Rußland nach seiner hundertjährigen 
Tradition nicht ruhig hinnehmen würde. Wir mußten uns immer vor Augen 
halten, daß, wenn wir mit Rußland und Frankreich in Krieg gerieten, 
England schwerlich eine so günstige Gelegenheit vorübergehen lassen 
würde, die stärkste Kontinentalmacht und gleichzeitig seinen gefähr- 
lichsten Konkurrenten auf wirtschaftlichem Gebiet unschädlich zu machen. 
Unter solchen Voraussetzungen sah ich getrost in die Zukunft. Ich wieder- 
hole: wahrlich nicht, als ob ich für die uns umgebenden Gefahren, gegen- 
über den uns umlauernden Feinden blind gewesen wäre. Aber ich war 
davon durchdrungen, daß wir mit ruhiger Festigkeit und mit der nötigen 
Geschicklichkeit diesen Gefahren ausweichen, die Pläne unserer Feinde 
vereiteln konnten. 
Meine eigentliche Sorge galt der Unzulänglichkeit von Bethmann, der 
Unbesonnenheit und Selbstüberschätzung des Kaisers. Im Innern war, 
sobald sich die Konservativen gegen mich gewandt, den Block gesprengt 
und die Erbschaftssteuer zu Fall gebracht hatten, die von mir voraus- 
gesehene Folge dieser verhängnisvollen Irrung, ich möchte sagen, auto- 
matisch zutage getreten. Alle Ersatzwahlen seit meinem Rücktritt zeigten 
ein rapides und stetes Wiederanwachsen der sozialdemokratischen 
Stimmen. 
In allen Teilen des Reichs, von Ostpreußen bis in die Pfalz, setzte 
die seit drei, richtiger gesagt seit sechs Jahren rückläufig gewordene 
sozialdemokratische Flut wieder ein. Trotzdem wirkte der Ausfall der 
Reichstagswahlen von 1912, denen Heydebrand und sein Famulus Westarp 
mit kaum faßlichen Illusionen entgegengezogen waren, denen Bethmann 
Hollweg mit verschränkten Armen, in apathischer Hilflosigkeit zugeseben 
hatte, im Inlande nicderdrückend auf klarerblickende Patrioten, im 
Auslande ermutigend auf alle unsere Gegner. Ein demokratisches Witzblatt, 
der Berliner „Ulk“, brachte nach den Reichstagswahlen vom 12. Januar 
1912 an der Spitze seiner Nummer ein gut gezeichnetes Bild, das Bethmann 
Hollweg darstellte, wie er in steifer Haltung dem Kaiser Vortrag hält, in 
der Hand ein Aktenstück mit der Aufschrift „110 Sozi!“ Der Kaiser, der 
im Pelz auf einer Bank sitzt, zeichnet mit dem Spazierstock in den Winter- 
schnee das Wort „Bülow“. Er sieht sehr gedrückt aus, Hat Wilhelm II. 
die Tragweite jener Wahlen sogleich begrilfen ? Ich möchte dies bei seiner 
Oberflächlichkeit gerade in großen politischen Fragen bezweifeln. Tat- 
sächlich war eine so gewaltige Zunahme der Sozialdemokraten nicht nur an 
Stimmen, sondern auch an Mandaten ein sehr ernstes Menetekel an der 
Wand der deutschen Zukunft. Nicht weniger als sechsundsechzig von den 
Reichstags- 
wahlen 
von 1912
	        
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