IX. KAPITEL
Montreux, Oktober 1913 . Audienz bei Pius X. » Besorgniserregende außenpolitische
Lage + Memorandum für den Kaiser? « Verhalten des Kaisers Wilhelm Il. gegenüber
entamteten Ministern » Wilhelın II. zieht Bülow nach dessen Rücktritt nie mehr zu Rat,
auch nicht vor dem Ultimaturn an Serbien noch in den kritischen Julitagen 1914 + Brief
Bülows an den Hausminister Graf August Eulenburg über die auswärtige Lage ein Jahr
vor der Katastrophe vom Sommer 1914
ie schon zweimal in vorhergegangenen Jahren unterbrach ich die
Rückreise nach Rom im Herbst 1913 durch einen längeren Aufenthalt
in Montreux. Der Genfer See war mir, seit ich einst in Lausanne studiert
hatte, ein besonders zusagender Aufenthalt geblieben. Ich gehe nicht so
weit wie Nietzsche, der behauptete, er fühle sich nur in Schweizer Ilotels
glücklich. Aber ich verstehe die Empfindungen, mit denen Byron und
Shelley, Rousseau und Voltaire, Gibbon und Dickens, Lamartine und Flau-
bert, der Däne Jacobsen und der Russe Turgenjew auf diesen Sce geblickt
haben. Als ich wieder die Insel Salagnon sah, umkreist von weißen Möwen,
den heiligen Vögeln des Lac L&man, die grünen Hochweiden der Savoyer
Berge, die Dent du Midi in ihrer kalten Ruhe, das ganze Bild der unverrück-
baren Berge und des unvergänglichen Sees, das jenen Charakter der Un-
wandelbarkeit trägt, die uns eine Ahnung vom Ewigen gibt, empfand ich
völlige innere Harmonie. Ich erinnerte meine Frau an die Worte von
Rousseau, der schrieb: „Ich brauche nichts weiter als eine Wiese am Ufer
des Genfer Secs, einen treuen Freund, eine liebenswürdige Frau, eine Kuh
und ein kleines Schiff; wenn ich alles das habe, wird mein Glück voll-
kommen sein.‘ Ich konstatierte, daß Gott mir eine schr liebenswürdige
Gattin, auch manchen treuen Freund beschert habe, daß wir uns ein kleines
Schiff, eine Kuh und selbst eine Wiese kaufen könnten, und schlug ihr vor,
uns hier für den Winter niederzulassen. Sie wollte aber nichts davon wissen,
da es sie nach Rom zog.
[_ Ich habe von jeher die Neigung gehabt, von Zeit zu Zeit meine Gedanken
zu Rück- und Umschau zu sammeln, am liebsten in schöner Gegend und
auf ausgedehnten Fußwanderungen. Mein Weg führte mich rings um Mon-
treux, abwechselnd durch nordisch anmutenden Nadelwald, durch südliche
Reise an den
Genfer See