ZWEI PÄPSTE 109
Irdische überwunden und, ich möchte sagen, aufgesogen hatte. Kein pein-
licher Erdenrest klebte an dieser Erscheinung. Sein weißes Gewand war
nicht weißer als die Blässe seiner Wangen, in wunderbarem Glanz leuch-
teten seine großen Augen, aus denen der Genius sprach. Bei Pius X. emp-
fand auch der Nichtkatholik, daß er vor einem wahrhaft heiligen Mann
stand, einem Mann von lauterster Güte, echter Frömmigkeit und bei aller
Würde und Hoheit großer innerlicher Demut. Als ich vor meiner Übersied-
lung nach Berlin im Herbst 1897 von Leo XIII. mit meiner Frau emp-
fangen worden war, wehrte der greise Pontifex ihr nicht, daß sie, vor ihm
niederkniend, ihm den Fuß küßte. Dann tröstete er sie, die ihm klagte, daß
es ihr schwer würde, sich von ihrer Mutter zu trennen und Rom zu ver-
lassen, mit Güte und hoher Einsicht. Ihr Mann sei auf einen wichtigen
Posten berufen, auf dem er für sein Vaterland und für die Welt Gutes
wirken könne. Sie müsse ihm seine große Aufgabe erleichtern, indem sie
sich freudig in die neuen Verhältnisse einfüge und ihm das Leben in jeder
Weise verschönere. Leo XIII. hat meiner Frau seine gütige Gesinnung bis
zu seinem Tode bewahrt und ihr noch kurz vor seinem Ableben durch den
Kardinal Kopp den apostolischen Segen gesandt. Pius X. erlaubte meiner
Frau nicht die traditionelle Huldigung des Fußkusses. Er hob sie, die vor
ihm niedergekniet war, gütig zu sich empor und zog sie und mich in ein
längeres Gespräch. Ich möchte hierbei der vielverbreiteten Meinung ent-
gegentreten, als ob Pius X. in irdischen Dingen, insbesondere in der Politik,
naiv, um nicht zu sagen einfältig gewesen sei. In der längeren Unterredung,
mit der er mich beehrte, besprach er eine ganze Reihe politischer Fragen
mit gesundem Menschenverstand und nicht ohne diplomatische Feinheit.
Sein Urteil über politische Personen, Souveräne, Minister und Parlamen-
tarier war abgewogen und klug. Als er beim Schluß unserer Audienz meine
Frau segnete und ihr dann in gütiger Weise sagte, daß er Gott bitte, auch
mich in seine Obhut zu nehmen und mit seinem Schutze zu begleiten, war
ich dem edlen Greis ebenso dankbar wie meine Frau.
AdolfWilbrandt, dessen Freundschaft uns seit fünfunddreißig Jahren
begleitete, hatte meiner Frau anläßlich unserer Silberfeier geschrieben:
„Teuerste Donna Maria, eben sagt mir Kusine Lisbeth Wendhausen, die
auch hier ist, bei meinen Kindern und Enkeln: Am neunten Januar der
große Tag, Ihr silberner Hochzeitstag! Ist’s richtig? Der neunte? Fünfund-
zwanzig Jahre seitdem dahin? Volle fünfundzwanzig? Haben sie Flügel, die
Jahre? Freilich, was haben Sie und Ihr geliebter Reichskanzler — mir bleibt
er das —, was haben Sie seitdem erlebt! Familien- und Weltgeschichte!
Schöner, rascher, immer rascherer Aufstieg, bis zum höchsten Gipfel — dann
ehrenvollster, frei gewählter, für uns schmerzvoll beraubender, Sehnsucht
und Hoffnung lassender Schluß. Und Sie immer die treue Poesie, die